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Verschleuderter Segen?

Zur Aktion „MainSegen“ der evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach

© Evangelisches Dekanat Frankfurt und Offenbach

 

Die anhaltende Austrittswelle aus der evangelischen Kirche deutet auf massive Akzeptanzprobleme hin. Denn auch der Protestantismus hat (ähnlich wie der Katholizismus) offensichtlich seinen einst festen Platz in der Gesellschaft verloren, er befindet sich auf dem Weg zur Minderheitskirche. Das liegt an der Infragestellung alles Überkommenen durch zunehmend säkularere Bürger. Neben den nicht einladenden verkrusteten Strukturen in der Amtskirche scheint der Glaube selbst nicht mehr glaubwürdig zu sein. Seine Verheißungen empfinden immer mehr Menschen als unrealistisch. Unübersehbar weicht die verkündigte christliche Botschaft den Problemen der Welt hilflos aus, anstatt menschenfreundliche Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Ebenso ist die Kommunikation zwischen Pfarrerschaft und jenen Mitgliedern jenseits der Kerngemeinde gestört; denn beide Seiten sprechen längst eine unterschiedliche Sprache. In einer solchen Krisensituation, in der sämtliche Alarmglocken läuten müssten, fällt den Verantwortlichen lediglich ein Rückgriff auf überholte Rituale ein. Pfarrerinnen und Pfarrer in Frankfurt und Offenbach bieten nunmehr auch außerhalb der Gotteshäuser ihren Segen an. Immer dann und dort, wenn und wo sich Menschen (Christen) diesen wünschen. In Glücksmomenten, aber auch bei Leid, Trauer und Verzweiflung.

 

Da stellen sich gleich mehrere Fragen. Gibt es tatsächlich eine Segens-Notlage, lässt sich gar ein ungesättigter Hunger nach Wünschen für göttlichen Beistand feststellen? Gelangt man nur unter großen Schwierigkeiten in den Genuss dieser Wünsche, die jeder Getaufte und jeder evangelische Amtsträger spenden darf? Als aufmerksamer Beobachter der theologischen Szene ist mir das bislang nicht aufgefallen.
 

Und auch Folgendes wäre zu hinterfragen: Droht möglicherweise ein inflationärer Gebrauch des Segens? Der große Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer warnte vor der billigen, der verschleuderten Gnade und Vergebung. Sie dienten der Selbstgerechtigkeit. Denn sämtliche christlichen Gnadenerweise und Wünsche müssten den Charakter der Nachfolge Christi tragen. Sie seien ein teures Gut, vom Kreuz geprägt. Widerspricht deswegen ein unbeschränktes Segensangebot, das auf öffentlichen Plätzen feilgeboten wird, dem christlichen Selbstverständnis?

 

Auf der Internetseite von „MainSegen“ wird gegendert. Obwohl sich eine sowohl quantitative als auch qualitative Mehrheit der Bevölkerung gegen diese Sprachverstümmelung ausspricht. Objektiv werden Frauen durch Asterisk und Doppelpunkt als ewige Anhängsel des Mannes deklassiert, reduziert auf *in bzw. *innen. Wer „dem Volk aufs Maul schaut“ (wie einst Martin Luther), sollte nicht ideologisch bestimmten Richtungen des dogmatischen Feminismus nachlaufen.

 

Wenn die sogenannte Amtskirche auf die Realitäten in den Gemeinden, nicht zuletzt auf die Erwartungshaltungen der schweigenden Mehrheit, trifft, sind Konflikte vorprogrammiert. Die Verfasser der 1986 (!) erschienenen Studie „Christsein gestalten“ wollten diesen Streit produktiv nutzen. Empirie und Theologie der evangelischen Kirche sollten im Horizont zunehmender gesellschaftlicher Säkularisierung und Entkirchlichung untersucht und der Kirche neue Entfaltungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.
 

Im Kern ging es um die Frage, wie man einen nicht beweisbaren Gott innerhalb und außerhalb der Kirche entmystifizieren und glaubhaft, also mit ethischen Konsequenzen, zur Sprache bringen kann. Zwar hat die evangelische Kirche herausragende Persönlichkeiten wie Paul Tillich, Rudolf Bultmann, Dietrich Bonhoeffer, Herbert Braun oder Hans-Joachim Kraus hervorgebracht, die darauf hingewiesen haben, dass Glaube ohne Wissen nicht funktioniert. Doch diese Erkenntnis ist auf der Strecke geblieben, vor allem, weil die Kirche stets versucht, Umwege aus der Wirklichkeit zu suchen, anstatt sich dieser Wirklichkeit zu stellen und diese als Wirkungsort ihrer Verkündigung zu verstehen.
 

Der reformierte Theologe Hans-Joachim Kraus hat 1982 als Vorsitzender des Moderamens des reformierten Bundes angesichts der atomaren Aufrüstung zum bislang letzten Mal indirekt den Status confessionis ausgerufen („Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage“), was in der Gesamtkirche einerseits Irritationen und Widerstände, andererseits hunderttausendfachen Zuspruch bei Jüngeren auslöste. Die Rede von Heinrich Albertz auf dem Evangelischen Kirchentag 1983 in Hannover war in diesem Sinn als Fanal zu verstehen.
Die „Barmer theologische Erklärung“ von 1934 hingegen war eine nach innen gerichtete Aufforderung, dem Staat zu geben, was diesem zusteht, und Gott zu geben, was ihm gebührt. Sie war nichts anderes als eine Bestätigung von Luthers Zwei-Reiche-Lehre. Zur Bekenntnisschrift wurde die BTE erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die Bewältigung der aktuellen Krise gilt sie als eher kontraproduktiv.

 

Über die „Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ machte sich der Baseler Kirchenhistoriker Franz Overbeck, ein Freund Friedrich Nietzsches, in seiner gleichnamigen Schrift von 1903 Gedanken. Er gelangte in dieser Abhandlung zu der Überzeugung, dass ohne Verwegenheit eine zeitgemäße Theologie nicht möglich sei. Prof. Trutz Rendtorff drückte das im Jahr 1986 so aus: „Die Theologie unseres Jahrhunderts ist in ihren wesentlichen Grundannahmen davon bestimmt, welche Haltung sie zur Neuzeit einnimmt.“ Der niederländische Pfarrer Klaas Hendrikse ging noch einen Schritt weiter, als er dem Buch über seine persönliche Auseinandersetzung mit Gott, Glaube und Kirche den Titel gab „Glauben an einen Gott, den es nicht gibt“ (Theologischer Verlag Zürich, 2013).
 

Damit knüpfte er an Rudolf Bultmanns „Erledigt“-Thesen an: Erledigt waren für diesen die Geschichten von der Höllen- und Himmelfahrt Christi, erledigt war die Vorstellung von einer Endzeit, erledigt die Erwartung des auf den Wolken des Himmels herabfahrenden Menschensohnes, erledigt die Wunder als bloße Wunder. Wörtlich äußerte er: „Unverständlich ist für den modernen Menschen die Vorstellung von dem göttlichen Geist als einem übernatürlichen Etwas, das in das Gefüge der natürlichen Kräfte eindringt, unverständlich ist für ihn die Deutung des Todes als einer Strafe für die Sünde, unverständlich ist für ihn die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch das Sterben Christi am Kreuz, unverständlich ist für ihn die Auferstehung Christi als ein Ereignis, durch das eine Lebensmacht entbunden ist, die man sich durch Sakramente aneignen kann, unverständlich ist für ihn die Erwartung, in die himmlische Lichtwelt versetzt und dort mit einem neuen, geistlichen Leib überkleidet zu werden.“
Die Konsequenz aus seiner Entmythologisierung des Neuen Testaments war für Bultmann die Entdeckung der Hermeneutik, also das richtige Verständnis von zeitgebundenen Texten.
 

Dadurch rückt auch die religiöse Sprache bzw. deren Sinn und Unsinn in das Zentrum christlicher Predigt. Wolf-Dieter Just hat darüber eine wegweisende Arbeit geschrieben: „Religiöse Sprache und analytische Philosophie“ (Stuttgart 1975). Just erkannte im üblichen kirchlichen Reden eine Privatsprache, die nur einem begrenzten Kreis zugänglich sei. Kommunikation im eigentlich Sinn sei jedoch nur als öffentliche Kommunikation anhand anerkannter Regeln (z.B. der deutschen Grammatik) möglich. Wer bewusst oder unbewusst dagegen verstoße, kommuniziere nicht mehr. So schreibt er beispielsweise: „Es gilt als müßig, über die Wahrheit einer Aussage wie z.B. »Jesus ist der Sohn Gottes« zu diskutieren, solange nicht geklärt ist, welchen Sinn diese Aussage haben soll bzw. ob sie überhaupt einen Sinn hat. […] Der Theologe kann nicht einfach für seine Aussagen die Forderung des Glaubens erheben; denn man kann nicht an den Glauben appellieren, wenn es zunächst darum geht, seine Inhalte zu bestimmen.“
 

Wenn die Frankfurter und Offenbacher Pfarrerinnen und Pfarrer im öffentlichen Raum segnen, werden sie auf freundliche Duldung, Unverständnis und deutliche Ablehnung stoßen. Denn die Bedeutung des Segens ist nur sehr wenigen klar. Folglich rangiert dieser Segen im Bereich von Beliebigkeit. Für kritische Christen ist das ein Beleg dafür, dass sich die Kirche längst verloren, dass sie sich von der Welt entfremdet hat.
 

Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die „Bibel in gerechter Sprache“. Diese Übersetzung war der Versuch, die Einordnung biblischer Schriften in ihren jeweiligen historischen Kontext aufzugeben und so zu tun, als sei jeder Text von vornherein auf einen bestimmten heilsgeschichtlichen Zweck angelegt worden. Die Disparatheit der Bücher im Hinblick auf das Verständnis von Göttern, Gott, Menschen, Frauen und Männern wird bewusst unterschlagen.
Im Streit um das sogenannte Gendern wird mit ähnlicher Unkenntnis argumentiert. Ja, Frauen handeln sogar gegen ihre eigenen Lebensinteressen, wenn sie sich auf *in bzw. *innen reduzieren lassen. Gerecht ist eine Sprache dann, wenn sie das Unrecht in dieser Welt nicht verschweigt und es nicht schönredet. Sprachwissenschaftler wie Peter Eisenberg, Roland Kaehlbrandt oder Eckhard Meineke haben in ihren Forschungen nachgewiesen, dass die deutsche Sprache sowohl abstrahieren als auch hinsichtlich Frauen und Männern konkretisieren kann. Die US-amerikanische Feministin Claudia Koonz hat in ihrem Buch „Mütter im Vaterland“ auf die bedenkliche Nähe feministischer Sprache zur NS-Ideologie hingewiesen. Besonders erwähnt wird in diesem Zusammenhang die negative Rolle der Linguistin Luise F. Pusch.
 

Für mich zeigt sich in der Aktion „MainSegen“ ein allzu simples Gottesverständnis. Fahrlässig oder vorsätzlich werden progressive Ansätze wie die Theologie Herbert Brauns verworfen. Brauns Definition von Gott als dem „Grund meines Umgetriebenseins vom Mitmenschen her“ könnte in einer säkularen Welt und in einer Kirche, die sich als Gemeinde der Sterblichen definiert, Bestand haben.
 

Aufgrund persönlicher Erfahrungen bezweifele ich, dass die evangelische Kirche eine hinreichende Sensibilität für die Wirklichkeit besitzt. Als ich im Rahmen meines ehrenamtlichen Engagements für die Frankfurter Stadtbücherei im April 2016 auf das Schicksal judenchristlicher Pfarrer im NS-Staat hinwies, die der Kirchenhistoriker Otto Prolingheuer in seinem Buch „Ausgetan aus dem Land der Lebendigen“ (Neukirchen-Vluyn 1982) dokumentiert hatte, erreichten mich wenige Wochen danach Droh- und Hassbriefe aus der rechtsextremen Ecke. Sowohl mir als auch anderen Aktiven wurde ein baldiges Ende auf der Guillotine prophezeit. Obwohl der Verfasser der Pamphlete namhaft gemacht werden konnte und trotz zwei Verurteilungen zu hohen Geldstrafen riss die Kette dieser Diffamierungen bis Jahresende 2023 nicht ab. Wir mussten sogar eine Veranstaltung im städtischen Bibliothekszentrum Sachsenhausen aus Sicherheitsgründen absagen. Die „Frankfurter Rundschau“ und die „Frankfurter Neue Presse“ haben darüber mehrfach und ausführlich berichtet. Beim Förderverein PRO LESEN gingen daraufhin zahlreiche Solidaritätsschreiben ein. Erwartet hätte man auch eine Reaktion der Evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau. Doch die blieb stumm. Sie produziert lieber „Impulspost“, also Rundbriefe, in denen sie das macht, was Wolf-Dieter Just und andere kritische Theologen (Frauen und Männer) ihr vorwerfen.
 

Für die Auftaktveranstaltung der Amtsenthebungskampagne gegen Oberbürgermeister Peter Feldmann im Oktober 2022 vermietete die Evangelische Akademie Frankfurt ihr Tagungshaus am Römerberg. Zu diesem Zeitpunkt war das Strafverfahren gegen Feldmann noch nicht entschieden, es galt also die Unschuldsvermutung. Und Feldmanns politische Gegner, allen voran die Grünen, überboten sich mit antisemitischer Propaganda („Feldmann entsorgen. Jetzt“, „Ohne Dich macht Ignatz sich nicht vom Feld, Mann“ – siehe „Schwarzbuch Frankfurter Verhältnisse“, hrsg. von Herbert Storn und Klaus Philipp Mertens).

 

Ein anderer Fall rangiert zwischen Gedankenlosigkeit und Chuzpe: Im Rahmen von Einsparungen reduzierte das Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik GEP in Frankfurt seinen Vertriebsapparat. Teile der Abo-Verwaltung wurden an einen Dienstleister übergeben. Dabei fiel die Wahl auf eine Firma, die auch den Abo-Stamm des Sexmagazin „Playboy“ betreut. Die Gefahr des Missbrauchs von Abonnenten-Daten liegt auf der Hand. Die Kunden des GEP wurden darüber nicht informiert, geschweige denn gebeten, der Übergabe der personengebundenen Daten an Dritte zuzustimmen. Vorsitzender des GEP-Verwaltungsrats ist der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

 

Im Kontext dieser Darstellungen gewinnt die Aktion „MainSegen“ für mich ein besonderes Geschmäckle.

 

 

Klaus Philipp Mertens