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„Unser Marsch ist eine gute Sache…“

Erinnerungen an den Ostermarsch 1967 von Bochum nach Dortmund

© Archiv Medien-RedaktionsGemeinschaft

 

Selten habe ich den Geist der demokratischen Revolution so stark gespürt wie im Frühjahr 1967. Ich war 19 und begeisterte mich für unkonventionelle politische Ideen. Nicht zuletzt wünschte ich mir einen Frieden, der mehr war als ein Waffenstillstand und völlig anders als die Ruhe eines Friedhofs. Nach meiner Überzeugung musste sich eine neue, an Gerechtigkeit und Solidarität orientierte Demokratie durchsetzen. Ich las mich fest in philosophischen Gesellschaftsentwürfen und entdeckte stets Neues.
Erster persönlicher Auslöser eines neuen Zeitbewusstseins war die Auftaktveranstaltung zum Ostermarsch im Februar 1967 im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen. Ich nahm als Delegierter der Dortmunder Gruppe des Verbands der Kriegsdienstverweigerer teil, zu deren zweitem Vorsitzenden ich gerade gewählt worden war.
 

Ab dem späten Vormittag traf man sich in Arbeitsgruppen und diskutierte über die politische Entwicklung in der Bundesrepublik. Ich hatte mich jüngeren Friedensaktivisten angeschlossen, die sich um den Politologen Johannes Agnoli von der Freien Universität Berlin scharten. Der beklagte die schleichende Transformation jener Demokratie, die nach dem Terror des NS-Gewaltregimes die einzige legitime Staatsform des neuen Deutschlands würde sein können und die im Grundgesetz verankert ist. Bereits die Adenauer-Ära sei der Versuch einer Restauration alter, nicht zuletzt vom Nationalsozialismus belasteter Verhältnisse gewesen. Die seit dem 1. Dezember 1966 regierende Große Koalition von CDU/CSU und SPD unter Führung von Kurt Georg Kiesinger stünde nicht für grundsätzliche Reformen. Die ins Regierungsboot geholten Sozialdemokraten würden lediglich als soziales Feigenblatt instrumentalisiert. Mit Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt sollten vor allem die Vorbehalte des Auslands gegenüber Deutschland zurückgedrängt werden.
 

Die meisten Teilnehmer der Arbeitsgruppe begaben sich am Nachmittag ernüchtert in den Festsaal des Hauses. Dort fand die Abschlusskundgebung statt. Zu dieser trugen vor allem bekannte Polit-Sänger wie Franz Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp sowie Vortragskünstler wie Hans Ernst Jäger und Dieter Hüsch bei. Der linke Barde, Kabarettist und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift „Kürbiskern“, Hannes Stütz, stimmte auf den Ostermarsch in sechs Wochen ein:

 

„Unser Marsch ist eine gute Sache,
weil er für eine gute Sache steht.
Wir marschieren nicht aus Hass und nicht aus Rache,
wir erobern kein fremdes Gebiet.
Unsre Hände sind leer,
die Vernunft ist das Gewehr,
und die Leute versteh‘n unsre Sprache.“

 

Tenor der meisten Reden war die realistische Einschätzung, dass weder die Regierung der Bundesrepublik noch die der DDR und der Sowjetunion eine Friedenspolitik betrieben. Die USA würden den Vietnam-Krieg aus geostrategischen Überlegungen (um China und der Sowjetunion keine Möglichkeit zu geben, sich dort festzusetzen) immer neu anfachen, anstatt ihn endlich zu beenden. Auch Großbritannien gebärde sich weiterhin als Großmacht und angebliche, tatsächlich aber ausbeutende „Schutzmacht“ seiner ehemaligen Kolonien. Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle träume von einem „Europa der Vaterländer“, das von Frankreich geführt und großenteils von Deutschland finanziert würde und auf Distanz zu den USA gehen solle.
Vor dem Hintergrund dieser machtpolitischen Ränkespiele, die Kriege bewusst einkalkulierten, müsse es die Alternative eines politischen Pazifismus geben, der sich vor allem gegen die atomaren Massenvernichtungswaffen positioniere. Die seit nunmehr zehn Jahren in Deutschland praktizierten Ostermärsche seien ein deutliches Zeichen einer friedensbereiten Bevölkerung.

Am anschließenden Fackelmarsch durch die Gelsenkirchener Innenstadt beteiligten sich die meisten Delegierten, viele Ortsansässige schlossen sich spontan an.

 

Zwei Monate später, am 27. März 1967, dem Ostermontag, war ich rechtzeitig am Sammelpunkt hinter dem Bochumer Hauptbahnhof. Von hier sollte um 12:00 Uhr der Marsch nach Dortmund starten. Der Weg führte über Landstraßen nach Bochum-Werne, Dortmund-Lütgendortmund und Dortmund-Dorstfeld zur Dortmunder Innenstadt. Auf dem Marktplatz neben dem Rathaus war für 16:00 Uhr die Abschlusskundgebung geplant.

Das Leitungsgremium der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ hatte mit Dortmunds Polizeipräsident Fritz Riwotzki, einem Sozialdemokraten und ehemaligen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, die Route abgestimmt. Streifenwagenbesatzungen, die an größeren Kreuzungen standen und uns den Weg freihielten, sowie unsere Ordner nahmen miteinander Kontakt auf. Dieser Marsch sowie der des Vorjahrs und die von 1968 und 1969 verliefen reibungslos. Trotz lautstarker Gesänge und Aufrufe kam es nie zu Gerangel, geschweige denn zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.

 

Auf dem Markt dürften sich etwa 5.000 Menschen versammelt haben. Es gab mehrere Reden von Gewerkschaftern der IG Metall und der ÖTV, von linken Sozialdemokraten, von Vertretern des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer“ und der „Internationale der Kriegsdienstgegner“, einem Vorstandsmitglied der VVN und – last but not least - von Andreas Buro von der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“.
 

Eine Songgruppe der „Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken“ stimmte ein traditionelles Friedenslied an:

 

„Nie, nie woll’n wir Waffen tragen!
Nie, nie woll’n wir wieder Krieg!
Lasst die hohen Herrn sich selber schlagen!
Wir machen das nicht länger mit!“

 

Oder:

 

„Ja, das ist Dreck und der muss weg,
ja, den wollen wir nicht haben.
Leute denkt um, seid nicht so dumm,
denn sonst fressen euch die Raben.“

 

Sowohl während des Marsches als auch auf der Kundgebung wurde klar: Frieden bedeutet politischer Kampf gegen Kriegstreiber und Hasardeure im Westen und im Osten. Wer Krieg, vor allem im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen, nicht ausschließt, ist unser Gegner. Gleichgültig, ob in Bonn, in Ost-Berlin, in Moskau oder in Washington. Wir, die Kriegsgegner, ergreifen Partei. Und wir sind dazu bereit, die Kriegstreiber zu vertreiben.
 

Mein persönliches Resümee: Der überwiegende Teil der Ostermarschierer am Ende der 1960er Jahre war nicht naiv. Demonstrationen und Proteste sowie die Proklamation des guten Willens allein würden den Frieden, den wir uns wünschten, nicht bringen. Es bedurfte des Kampfes. Gegen Kiesinger, Ulbricht, Breschnew, Nixon und deren Gefolgsleute. Ich bin sicher, dass die Demonstranten von damals heute zum Kampf gegen Putin & Konsorten aufriefen.

 

 

Klaus Philipp Mertens