Vom Geist der Zeit | Die Meinungsseiten

Schalt dein Radio ein…

Ein Schlüsselmedium wurde 100 Jahre alt

 

Am 29. Oktober 1923 ging die allererste Sendung des „Unterhaltungsrundfunks“ vom Berliner Vox-Haus auf Welle 400 in den Äther. Der Hörfunk wurde zu einer Erfolgsgeschichte, auch wenn er wenige Jahre nach Gründung vom NS-Staat instrumentalisiert wurde. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Hörer zu gut informierten Zeitzeugen werden. Denn sämtliche wichtigen Ereignisse wurden von den Sendeanstalten entweder als Meldungen oder Reportagen aufgegriffen sowie analysiert und kommentiert. Nicht zuletzt fanden sich alle Musiksparten in den Programmen wieder. Für Rock’n Roll und Beat bedeutete das Radio den Durchbruch zum jungen Publikum. Aber auch E-Musik und Literatur waren und sind feste Bestandteile des Angebots. Bereits in den Anfangsjahren erwiesen sich Hörspiele als eine dem Medium besonders angemessene Form.
 

Von den frühen 1950er Jahren bis 1962 besaßen meine Eltern ein Radio der Marke „LOEWE Opta“, das auf einem niederen Beistelltisch im Wohnzimmer seinen Platz hatte. Es war ein massiver dunkelbrauner Holzkasten, ungefähr 55 cm breit und 30 cm hoch, nach vorn etwas gewölbt, die seitlichen Wände jeweils 5 cm dick. In der rechten Hälfte der Frontseite befand sich eine beleuchtete gläserne Skala mit den Namen der Sender, die auf Mittel-, Lang- und Kurzwelle erreicht werden konnten. In den Schriftzug „Loewe Opta“ war mittig ein sogenanntes magisches Auge eingelassen, eine Röhre, die in einem grünen Kreisfeld die Signalstärke eines Senders anzeigte. Den linken Teil der Front bildete eine beigefarbene textile Abdeckung, welche die Lautsprecher und das Innenleben aus Röhren, Drähten und Mechanik verbarg, aber die Töne sehr gut zur Geltung brachte. Das untere Viertel des Geräts bestand aus einer hölzernen Verblendung. Darauf links außen ein Drehknopf für die Feinabstimmung, rechts außen einer für das Ein- und Ausschalten sowie die Senderwahl. An der rechten Wand befand sich seitlich ein Drehknopf für die Wellen, die als M, L und K abgekürzt waren. Die herausnehmbare hintere Wand wies eine Vielzahl regelmäßig angeordneter kreisförmiger Öffnungen auf. Stromkabel und Anschluss für die Antenne befanden sich ebenfalls an der Rückseite.

 

Dieses Radio war über ein Jahrzehnt das Informationszentrum der Familie. Es wurde noch stärker in Anspruch genommen als die Tageszeitung (damals die „Westdeutsche Allgemeine“). Im Frühjahr 1962 ersetzten meine Eltern es durch ein Radio der Marke „Nordmende“. Es unterschied sich vom bisherigen vor allem durch eine über die gesamte untere Front verlaufende Senderskala. Wellen sowie Feinabstimmungen waren über eine Tastatur steuerbar. Und es verfügte serienmäßig über UKW. 1968 wurden wir technisch noch moderner und leisteten uns ein „SABA-Villingen de Luxe“ mit Stereo-Lautsprechern und Anschlüssen für Plattenspieler und Tonband.

 

Obligatorisch waren für alle, die sich in der Wohnung aufhielten, die Nachrichtensendungen. Selbst als Grundschüler gewöhnte ich mir an, sie täglich zu hören. Zu deren Beginn gab es eine genaue Zeitansage. Sprecherin oder Sprecher sagten beispielsweise: „Beim letzten Ton des Zeitzeichens war es 12 Uhr“. Vorab erklang eine kurze Melodie. Den Hörern des NWDR fiel dazu ein Vers ein: „Ist der Rundfunk bezahlt?“. Um 18:30 Uhr gab es im gemeinsamen Programm von NDR und WDR eine halbstündige Zusammenfassung der Tagesereignisse. Sie hieß „Echo des Tages“. An den Samstagabenden wurde die Sendereihe „Das Sonnabend-Abendstudio“ ausgestrahlt. In essayistischer Weise befasste sich der Moderator mit Themen der Zeit. Am Mikrofon war zumeist der Hamburger Journalist ElefSossidi. Ebenfalls einen besonderen Zuspruch genoss bei uns die Kommentarreihe „Vom Geist der Zeit“, die auf die 19:00 Uhr-Nachrichten folgte.

 

Sonntagnachmittags, pünktlich zu Kaffee und Kuchen, lief das Wunschkonzert der Hörer. Es war ein Mix aus Operetten- und Schlagermusik, eingestreut waren Arien aus bekannteren Opern und Ausschnitte aus Symphonien. Zu den übers Jahr meistgespielten Liedern zählten „Dein ist mein ganzes Herz“, „Ich bin nur ein armer Wandergesell“, das Wolgalied, „Lächeln, immer nur lächeln“, „Nur nicht aus Liebe weinen“ oder „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“. Nicht zu vergessen Lieder über die Seefahrt („La Paloma“) oder die Fremdenlegion („Heimweh“) und das vermeintlich flotte Leben im Süden: „Der lachende Vagabund“, „Capri-Fischer“, „Barbara, Barbara, komm‘ mit mir nach Afrika, wo die kleinen Negerlein spielen Ringelrein“ sowie „Ja, ja in Spanien, da gibt es Mädchen, die sind noch frischer als frische Brötchen“.

Die Beispiele zeigen, dass selbst der Hörfunk, der Rundfunk allgemein, Gefahr läuft, populistisch zu entgleisen. Der bereits erwähnte Elef Sossidi, dessen Vorfahren aus Griechenland stammten, musste von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen unter Pseudonym berichten. In der offiziellen Anweisung der Programmleitung hieß es: „Um jegliche Provokation durch einen für den deutschen Rundfunkhörer zu fremd und möglicherweise auch zu ‚jüdisch‘ klingenden Namen zu vermeiden, muss Elef Sossidi unter dem Pseudonym ‚Andreas Günther‘ berichten.“

 

Selbstverständlich hörte ich am Sonntagmittag den Kinderfunk. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir Astrid Lindgrens „Kalle Blomquist“ in einer mehrteiligen Hörspielversion und die Kinderhörspiele „Steffi Bimburgs Tagebuch“.

Erklärte Lieblingssendung meiner Mutter war die Funklotterie „Wer hört gewinnt“. Mindestens zwei Mal hatte sie eine Kleinigkeit gewonnen. Der Moderator und Quizmaster Just Scheu verabschiedete sich nach jeder Sendung von seinen Hörern mit den Worten „Toi, toi, toi – Ihr Just Scheu“. Der talentierte Sprecher, Autor (seine Kriegsromane blieben sehr umstritten), Schauspieler und Regisseur starb völlig unerwartet im Alter von 53 Jahren im August 1956 an den Folgen einer Blinddarmoperation.

 

Der Hörfunk war das klassische Medium für Hörspiele. Von den vielen Produktionen, die ich zwischen 1954 und 1966, meiner Schulzeit, gehört habe, ist mir besonders Günter Eichs „Geh nicht nach El Kuwehd" in Erinnerung geblieben. Es hat mich aufgewühlt und gilt mir bis heute als exemplarisch für die vielfältigen Möglichkeiten des Hörfunks, technisch und dramaturgisch.

 

Die Hörfunksender waren für mich lange Zeit der einzige kostenlose Weg zur Rock & Pop-Musik. Die Sendungen von Heinrich Pumpernickel (Chris Howland) und Mal Sondock im WDR wirkten geschmacksbildend. Nicht zu vergessen die „Frankfurter Schlagerbörse“ des HR von und mit Hanns Verres, die ab 1973 in veränderter Form unter dem Titel „Hitparade International“ von Werner Reinke fortgeführt wurde.

 

Als ich in der Quarta einen Deutschaufsatz über die von mir präferierten Radioprogramme schreiben musste und den Entwurf zu Hause laut vorlas, meinte mein Vater, es müsse „der Radio“ heißen. Denn die Bezeichnung rühre von „Radioapparat“ her, was grammatikalisch männlich sei. Doch ich hatte Zweifel und ließ den Artikel weg. Unser Deutschlehrer las den Aufsatz, benotete ihn mit „gut“, forderte mich aber auf, den Artikel zu ergänzen, also „das Radio“ zu schreiben. Als ich es meinem Vater erzählte, schimpfte er über die „weltfremden Lehrer“.

 

Trotz meiner anfänglichen Schwierigkeiten mit dem korrekten Genus für „Radio“ verfolgte ich nach Schulschluss zu Hause den „Schulfunk“ des NDR/WDR, dessen Sendungen vom Vormittag nachmittags wiederholt wurden. Besonders gefiel mir die Gemeinschaftskunde-Reihe „Neues aus Waldhagen“. Aber auch die Sendungen „Der Tierfreund“, „Lebendige Vergangenheit“ sowie „Aus Heimat und Welt“ fanden mein großes Interesse. Rückblickend kann ich sagen, dass ich sehr viel gelernt habe. Und ich lerne tagtäglich dazu – durch die Radioprogramme der ARD.

 

 

Klaus Philipp Mertens