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Genus gleich Sexus?

Die katastrophalen Irrtümer der feministischen Linguistik

© Deutschlandfunk

 

Seit die Linguistinnen Senta Trömel-Plötz und Luise F. Pusch in den 1970er Jahren eine Diskussion über geschlechtergerechte, vor allem feministische, Sprache im Deutschen auslösten, geistern diese Schlagwörter durch die gesellschaftliche Diskussion. Allerdings stoßen die Begriffe und Inhalte auf den Widerspruch vieler Fachwissenschaftler. Diese bestreiten einen zwingenden Zusammenhang von Genus (dem grammatischen Geschlecht) und dem natürlichen Geschlecht. Deswegen erübrige sich eine feministische Sprachkritik. Die Reaktionen darauf, insbesondere die von Luise F. Pusch, waren und sind von Polemik getragen („sprachliche Vernichtung“, geistiger Gynocid“). So wird beispielsweise behauptet, dass die patriarchalische Kultur eine Männersprache hervorgebracht habe, der sich Frauen unterwerfen mussten und müssen. Davon, dass Herrschaft mit den ökonomischen Verhältnissen korreliert, ist hingegen nicht die Rede. Vielmehr könne durch die Feminisierung der Sprache das Denken und letztlich die Wirklichkeit verändert werden. Solche Postulate ermöglichten das Entstehen des Narrativs von der „Männersprache“ Deutsch.
 

Seit etwa zehn Jahren ist sogar eine fanatische, nahezu militante Tendenz zu beobachten. So propagieren die Vertreter des radikalen Feminismus, dass die Gleichberechtigung der Frauen mittels sprachlicher Sonderzeichen durchgesetzt werden müsse. Also durch die Hinzufügung von „in“ bzw. „innen“ an eine vermeintlich männliche Form. Die Ankettung an den Mann wird durch ein Sternchen, einen Doppelpunkt oder einen Unterstrich vollzogen. Dass dieses Verfahren eine kontraproduktive Semiotik auslösen könnte, ist den Propagandisten anscheinend nicht bewusst.

 

Bereits das Lesen solcher Wortgebilde ist schwer. Das Sprechen fällt sogar noch schwerer, denn es bedarf einer Kunstpause, dem sogenannten Glottisschlag. Von Schauspielern und professionellen Sprechern abgesehen, gelingt das nur Wenigen. Die Mehrheit der Bevölkerung, 70 Prozent, lehnt das Gendern ab, 15 Prozent würden es tolerieren. Selbstbewusste Frauen machen auffallend selten davon Gebrauch. Hingegen scheint es in Life-Style-Berufen zum guten Ton zu gehören. Ebenso bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne erkennbare tiefere Affinität zur deutschen Sprache (was unschwer anhand schriftlicher Äußerungen zu vermuten ist, die von einer verkümmerten Grammatik und gravierenden Ausdrucksarmut strotzen).
Wer auf die Existenz von Frauen explizit hinweisen will, könnte beispielsweise Leserinnen und Leser, Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte, Polizistinnen und Polizisten oder Bürgerinnen und Bürger sagen. Oder sich mit dem Epikoinon (abgeleitet vom altgriechischen „epi-koinos ", was „gemeinsam" bedeutet) vertraut machen, also dem genderneutralen Maskulinum, das sämtliche Geschlechter meint. Es wird in der deutschen Grammatik seit Jahrhunderten angewandt. Ohne Epikoinon wären Abstraktionen überhaupt nicht möglich. Der fundamentalistische Sprachfeminismus nimmt sogar billigend hin, dass durch die Sonderzeichen auch in die Grammatik eingegriffen wird (z.B. werden Endsilben getilgt). Dabei sind Grammatik und Rechtschreibung eng miteinander verbunden; Letztere ist ein Abbild der Ersteren.

 

Die Verfechter des Genderns verweisen in ihrer Argumentationsnot mittlerweile auf jene Menschen, die sich nicht den traditionellen Geschlechtern zurechnen. Das Epikoinon bietet jedoch auch ihnen eine angemessene Form der Erwähnung. Dieser rationalen Methode steht jedoch offensichtlich die ideologische, von Trömel-Plötz und Pusch vertretenen, These entgegen, dass die deutsche Sprache seit eh und je eine männliche sei, die der männlichen Vorherrschaft verpflichtet wäre. Die Sozialgeschichte, insbesondere die der sozialen Bewegungen, belegt jedoch das Gegenteil.

 

Die unangemessene Vorzugsstellung der Männer in Theorie und Praxis wird gar nicht bestritten. Sie beruht auf einer durch die ökonomischen Verhältnisse erzwungenen Arbeitsteilung, die auch Unterordnung bedeutete. Frauen waren jahrhundertelang für den Haushalt und die Kindererziehung verantwortlich. Männer hingegen für die Erwerbsarbeit, mit deren Lohn der Lebensunterhalt bestritten wurde. Der Wandel von der Manufakturarbeit hin zur industriellen Produktion brachte im frühen 19. Jahrhundert bereits erste Verwerfungen bei den überkommenen männlichen und weiblichen Rollenbildern. Dies beschleunigte sich während des gesamten 20. Jahrhunderts. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gingen immer mehr Frauen einer beruflichen Tätigkeit nach, auch wenn ihnen in den meisten Fällen noch zusätzlich der Haushalt zugemutet wurde. Aber als die ersten feministischen Linguistinnen ab den 1970er Jahren eine geschlechtergerechte Sprache anmahnten, war ein nennenswerter Teil die Frauen längst weiter. Es wurde normal, dass Frauen weiterführende Schulen besuchten, qualifizierte Berufe erlernten oder studierten. Nach und nach nahmen sie (vorrangig in größeren Betrieben) Leitungsfunktionen ein. Allerdings: Von einer umfassenden Gleichstellung aber waren sie noch entfernt. Daran hat sich zwischenzeitlich einiges, wenn auch nicht alles geändert. Insbesondere fällt auf, dass nur relativ wenige Frauen gewerkschaftlich organisiert sind (abgesehen vom öffentlichen Dienst). Und dass Teilzeitarbeit vor allem von Frauen wahrgenommen wird. Sonderzeichen in der Sprache werden nicht zu einer Besserung dieser Verhältnisse führen.
 

Als im Januar 1977die feministische Zeitschrift „Emma“ erschien, war sie in den Auslagen der Kioske umringt von anderen Zeitschriften mit der Zielgruppe Frauen: „Brigitte“, „Für Sie“, „Freundin“, „Petra“, „Tina, „Bild der Frau“, „Frau im Spiegel“, „Das neue Blatt“ usw. Dennoch erreichte die verkaufte Auflage bald 50.000 und mehr Exemplare. Doch etwa ab 2004 ging es bergab. Seit 2019 werden vom Verlag 26.000 verkaufte Stück pro Nummer genannt.
Es scheint so, als fände auf diesem Gebiet ein Kulturkampf statt. Und nicht dort, wo ihn uns die Apologeten des Genderns einreden wollen.

 

 

Klaus Philipp Mertens