Archiv "Vom Geist der Zeit" | Philosophie und Theologie

Gibt es (einen) Gott?

Von Offenbarungen, heiligen Büchern und ewig offenen Fragen

Thomas Cole: Der Pokal des Riesen

Existiert Gott? Das Einzige, was sich beweisen lässt, ist das seit Jahrtausenden existierende Nachdenken, Spekulieren und Phantasieren über die Existenz (eines) Gottes.

Der Mathematiker Kurt Gödel, dem fälschlicherweise nachgesagt wird, er habe eine mathematisch-logische Begründung für die Existenz Gottes geliefert, hat als Antwort auf den ontologischen Gottesbeweis Anselm von Canterburys lediglich schlüssig nachgewiesen, dass „Existenz“ (im philosophischen Sinn) zwar aus plausiblen, jedoch nicht zwangsläufig gültigen Annahmen hergeleitet werden könne, diese aber dennoch nicht als reale Prädikate (Aussagen) bezeichnet werden dürften.

Anders ausgedrückt: Die Existenz Gottes lässt sich erfahrungswissenschaftlich (empirisch) verifizieren (bestätigen als Gegenstand des Nachdenkens und/oder des persönlichen Fürwahrhaltens), aber nicht erfahrungswissenschaftlich falsifizieren (widerlegen, weil noch niemand Gott gesehen hat). Aus dem faktisch vorhandenen Nachdenken über bzw. dem Glauben an Gott und der Nichtbeweisbarkeit seiner Nichtexistenz lassen sich trotzdem keine hinreichenden Prädikate (stabile Aussagen) ableiten. Um einen Beweis im mathematisch-logischen Sinn antreten zu können, bedarf es zusätzlicher, also nichtempirischer stabiler Informationen.

Doch solche Informationen liegen im Hinblick auf Gott einzig und allein als persönliche Überzeugungen im Sinn empirischer Verifizierung vor; man kann sie als Eingebungen aus dem Nichts bezeichnen. Oder man kann logische Fehlschlüsse anstellen, wenn man zum Beispiel von einem nicht definierbaren X auf ein Y schließt. Sie taugen nicht als Beweismittel im Sinn mathematischer Axiome bzw. philosophischer Prädikate. Eben weil sie selbst unbewiesen und de facto unbeweisbar sind.

Die Vorstellungen von Gott sind Projektionen menschlicher, im Laufe der Zivilisation gewachsener Idealvorstellungen auf eine metaphysische Ebene (Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums). Und wovon man nicht sprechen, also nichts aussagen kann, darüber muss man schweigen – wie Ludwig Wittgenstein im letzten Satz seines „Tractatus logico-philosophicus“ meinte.

Wer aber von der Frage nach Gott nicht lassen mag, sei auf den hilfreichen Gottesbegriff des skeptischen Philosophen Wilhelm Weischedel (1905-1975) verwiesen. In seinem Hauptwerk „Der Gott der Philosophen“ (erschienen 1971/72) widerspricht dieser allen Versuchen, Gott substanzhaft zu denken. Denn Gott oder das Göttliche seien lediglich das Vonwoher der Fraglichkeit bei der Suche nach dem Sinn menschlichen Lebens. Je tiefer man in diese Suche einsteige, umso mehr nehme auch die Fraglichkeit zu. Dies führe in letzter Konsequenz dazu, dass die Frage nach Gott offenbleiben müsse, letztlich nicht beantwortet werden könne.

Gott als die ewig offene Frage, Heilige Bücher allenfalls als Versuche einer Annäherung an das faktisch Unbeweisbare und keinesfalls als maßgebende Autorität: Dogmatiker und Fundamentalisten aller Couleur sind auf dem Irrweg. Und deswegen macht es keinen Sinn, ihnen Zugeständnisse zu machen. Zum Beispiel die Tolerierung von auffallenden religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit, die als Provokationen, mindestens als Herausforderungen, eines gewachsenes säkulares Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft verstanden werden können. Selbst Katholiken und Protestanten sind überwiegend weltlich eingestellt; begreifen ihre jeweilige Konfession als Privatsache, die überwiegend in privaten Bereichen praktiziert wird.

Bedingt durch die Einwanderung türkischer Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren ist seither im öffentlichen Straßenbild vor allem der Islam wahrnehmbar. Und das in einer Größenordnung, die nicht seinem tatsächlichen Anteil an der Bevölkerung entspricht. Deswegen erscheint er vielen als fremd, sogar als bedrohlich. Diese Vorbehalte haben sich seit den von islamistischen Attentätern verübten Mordanschlägen hierzulande und im europäischen Ausland noch verstärkt. Doch darf man von islamischen Extremisten auf die ganze Religion schließen? Ist der Islam letztlich nicht ein Glaube wie jeder andere? Von letzterem ist zunächst auszugehen, ohne dass die Annahmen über den islamischen Extremismus grundsätzlich falsch wären.

Von den drei monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) ist der Islam die jüngste, sie entwickelte sich am Anfang des 7. Jahrhunderts in Arabien. In ihrer lesenswerten Mohammed-Biografie (1968 in Zürich posthum erschienen) schrieb die Schriftstellerin und Märchenerzählerin Elsa Sophia von Kamphoevener: „Gottesglaube und seine Gestaltung entwächst dem Boden, ist stärkster Ausdruck der Volkswesenheit, tiefste Verwandtschaft mit dem All, mit der Natur, wie sie gesehen wird aus dieser Volkseigenheit heraus .... So ist der Islam Arabien und Arabien der Islam. Beide sind nicht voneinander zu trennen und sind nur voll zu verstehen eines aus dem andern, eines mit dem anderen.“

Etwas weniger literarisch formuliert bedeutet dies, dass sich in der Religion die gesellschaftlichen Verhältnisse einschließlich ihrer Zukunftsentwürfe auf einer Metaebene als Projektion spiegeln (Ludwig Feuerbach, der Ähnliches formulierte, ist hier zuzustimmen). Und dies gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für das 2000 Jahre alte Christentum und das noch wesentlich ältere Judentum.

Die jüdischen Gelehrten, die etwa 400 Jahre vor Christi die überlieferten Schriften in der hebräischen Bibel, dem Tanach (zusammengesetzt aus den Begriffen TORA = Weisungen, NEVIIM = Propheten, KETUBIM = Schrifttum), neu ordneten, wollten bewusst den Zeitbezug der jeweiligen Überlieferungen nicht verschweigen, sondern anhand der unendlich vielen und dem aufmerksamen Leser auffallenden Widersprüche den Weg einer Religion vom götzenähnlichen archaischen Gott Israels zum völlig abstrakten, namenlosen Gott („Ich bin, der ich sein werde“; Exodus 3,14) deutlich machen.
Auch die jüdischen Denker des Exils (z.B. Philo von Alexandria mit seiner negativen Theologie, der zufolge Gott nicht an menschlichen Kategorien messbar ist) und des europäischen Mittelalters (z.B. Maimonides, dem entschiedenen Gegner formaler Religionsgesetze) folgten dieser kritischen Tradition, die bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein andauerte. Hier sind der Neukantianer Hermann Cohen (1842 - 1918) und der Reformrabbiner Leo Baeck (1873 - 1956) besonders zu nennen. Erst der deutsche Faschismus machte dieser weltzugewandten Theologie in Deutschland und Teilen Europas ein mörderisches Ende.

Das Christentum, das sich in der spätrömischen, noch stark vom griechischen (Götter-) Denken beeinflussten Antike aus jüdischen Wurzeln bildete, hatte das im Judentum angelegte dynamische Wesen Gottes bzw. der Gottesvorstellung entweder nicht hinreichend verstanden oder wollte es bewusst nicht verstehen. Der abstrakte, namenlose JHWH wird dort zum Oberhaupt einer Götterfamilie (Vater, Sohn und Heiliger Geist; bei den Katholiken gibt es als Zugabe noch die Gottesmutter Maria) und man fühlt sich bei objektiver Betrachtung an die Welt des Zeus erinnert.

Der Islam, der ähnlich wie das Christentum die jüdische Vätergeschichte aufgreift, Jesus aber den Propheten Allahs zurechnet, hat diese Relativität der Überlieferungen, die vom Judentum relativ früh und vom Christentum ziemlich spät anerkannt wurde, kaum berücksichtigt; in der Alltagspraxis spielen theologisch-wissenschaftliche Erkenntnisse denn auch keine Rolle. Das liegt nachweislich an den übereinstimmenden Strukturen von irdischer, in der Regel feudalistisch geordneter, Welt und dem erhofften Paradies, das als Fortsetzung irdischer Herrschafts- und Sozialstrukturen gedacht ist. Auch wenn der Koran sowohl in diesem als auch in anderen Punkten längst nicht zu übereinstimmenden Aussagen kommt, werden die einfachen und den weltlichen Ordnungen zugeneigten Offenbarungen unkritisch an jede neue Zeit weitergereicht.
 

Mehr noch als die Reformation hat im Christentum die Aufklärung eine historisch-kritische Auseinandersetzung angestoßen. Das 19. Jahrhundert war die Blütezeit der Leben-Jesu-Forschung (von Albert Schweitzer in einer historischen Gesamtdarstellung erschöpfend zusammengefasst) und ohne diese wäre die von Rudolf Bultmann kurz vor der Mitte des 20. Jahrhunderts begründete Entmythologisierung des Neuen Testaments nicht möglich gewesen. Die Überzeugung, dass die Evangelien Glaubenszeugnisse darstellen, aber keine historisch objektiven Berichte sind, gehört mittlerweile zu den Grundlagen der modernen evangelischen Theologie, der sich auch die Katholische Kirche nicht verschließen konnte, selbst wenn diese Erkenntnisse vielfach dem Klerus vorbehalten bleiben. In Bultmanns Hauptwerk „Neues Testament und Mythologie“ kann man entsprechend lesen:
 

„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“
 

Ähnliche Schritte in die Moderne hat der Islam, zumindest mit einer Bedeutung für die Allgemeinheit seiner Gläubigen, nicht gemacht. Nach wie vor prägt das alte, feudale Arabien die Vorstellungen der Muslime. Und diese Vorurteile werden noch bestätigt durch die heutigen politischen Verhältnisse in der arabischen Welt, die von Demokratie und Emanzipation Jahrhunderte entfernt scheinen. Dabei ist die Bewusstlosigkeit bzw. Ahnungslosigkeit der Gläubigen hinsichtlich der ursprünglichen Absichten der von Mohammed herbeigeführten Wende in den bis dahin tradierten religiösen Vorstellungen Arabiens leider kennzeichnend.
 

Ähnliches gilt jedoch auch für die vor allem in ländlichen Regionen anzutreffende christliche Volksfrömmigkeit. Ganz zu schweigen vom evangelikalen Biblizismus, der im Mittelwesten der USA verbreitet ist.

Allen so genannten heiligen Büchern scheint gemeinsam zu sein, dass sie bei genauer, vor allem historisch-kritischer Analyse die überzeugendsten Beweise liefern für die Nichtexistenz eines Gottes. Zumindest aber dafür, dass religiöse Überzeugungen nur geglaubt, aber niemals im wissenschaftlichen Sinn bewiesen werden können. Deswegen sind sie nicht geeignet als Begründung für politische Ziele. Über politische Theorien, die auf ernsthafte philosophische Erwägungen zurückgehen, kann man diskutieren, gar streiten. Der religiöse Glaube aber ist eine so persönliche Angelegenheit, dass er auf den privaten, zumindest den nichtöffentlichen Raum zu beschränken ist.
 

Religion ist nach Auffassung des Systemtheoretikers Niklas Luhmann ("Funktion der Religion", Frankfurt a.M. 1977) eine Reduktion von Komplexität. Und exakt so werden der Islam sowie die fundamentalistischen Strömungen in Judentum und Christentum mehrheitlich praktiziert und von außen wahrgenommen: Als religiöse Praxis mit einfachen Vorschriften, eingebettet in ein Feudalsystem (siehe Saudi-Arabien, die Emirate, Iran und nach dem Krieg von 2002 auch im Irak und möglicherweise in der Türkei Erdogans) mit aggressiven Abwehrmechanismen gegen jegliche Form von Emanzipation und Modernität.

Selbst das Judentum, das die intellektuellste Form einer Gottesidee beinhaltet ("Ehja ascher ehja" - ich bin ich/ich bin da; Exodus 3, Vers 14), ist mittlerweile dem Regiment eines Oberrabbinats in Jerusalem unterworfen, das ähnlich wie der Vatikan im Katholizismus die vermeintlich reine Lehre bewahrt und das dem Staat Israel unkritisch zugetan ist. Das "gelobte Land", das den legendären Erzvätern von einem geglaubten Gott zugesprochen worden war und im Laufe der Jahrhunderte theologisch zu einer Metapher für eine völlig andere, bessere Qualität von Welt wurde, ist längst unter die politisch Mächtigen, gefallen.
 

Und das Christentum? Sein Konstruktionsfehler besteht in der unzulässigen, weil unvereinbaren Vermischung von jüdischer Gottesvorstellung mit Mythen aus der altgriechischen Götterwelt (präexistenter Logos, der im Johannes-Evangelium deutlich wird, so im Kapitel 1, Verse 1 - 5). Aus dem abstrakten "Ich bin, der ich sein werde" (Luther-Übersetzung von Exodus 3, 14) wurde ein Konstrukt mit Vater, Sohn und Heiligem Geist, das einer unkritischen Volksfrömmigkeit Tür und Tor öffnete. Und das dazu einlädt, politisch missbraucht zu werden, weil sie an der Opfertheologie anknüpft, die den Tod Jesu als Opfertod für die Menschheit auffasst, um diese von Sünden zu befreien. Auch der im Christentum vielfach anzutreffende Pluralismus ist kein menschenfreundlicher Zug. Denn er hält selbst das Nichttolerierbare noch für tolerabel. Auf diese Weise will er den Problemen der Welt ausweichen will, statt sich ihnen zu stellen und sich an ihrer Beseitigung zu beteiligen.

Deswegen sind Religionen, die zwischen Welt und geglaubter Meta-Welt pendeln, nicht dazu geeignet, Regeln für das Miteinander der Menschen zu entwerfen. Als Protestant und Skeptiker halte ich darum Modelle, welche Stationen aus der Philosophie der Neuzeit, von Kant über Hegel, Feuerbach und Marx bis Adorno, weiterentwickeln und offen für Neues bleiben, für die Begründung eines Humanismus besser geeignet.

 

Klaus Philipp Mertens

30.04.2016