Wer als Literaturfreund bzw. Literaturfreundin bekannt ist, wird vor und während der Buchmesse häufig gefragt, was er/sie zurzeit lese. Und was das schönste und interessanteste Buch war, das man je gelesen hat. Meine Antworten sind vermutlich nicht typisch für den allgemeinen Buchkonsum, aber vielleicht können sie als Tipps gelten.
Als Bettlektüre steht Michael Köhlmeiers Roman „Frankie“ (erschienen 2023) auf dem Leseplan. Der österreichische Schriftsteller erzählt die Geschichte eines 14-jährigen Jungen, der mit seinem ihm bislang unbekannten Großvater konfrontiert wird, der insgesamt 26 Jahre im Gefängnis saß und nach vorzeitiger Entlassung plötzlich in das bislang ruhige Durchschnittsleben des Jugendlichen und seiner Mutter tritt. Für den Teenager sind die Begegnungen mit dem ungebildeten und aggressiven alten Knacker, der sämtliche Eigenschaften eines Ekels aufweist, ein häufig schmerzhafter Lernprozess auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Aber auch die Mutter, die um den zweifelhaften Charakter ihres Vaters weiß, jedoch kaum darüber spricht, emanzipiert sich allmählich, wenn auch zunächst ohne Überzeugung, von der fragwürdigen Tochterrolle, die sie über drei Jahrzehnte klaglos akzeptiert hat.
Sobald ich den Roman vollständig gelesen habe, will ich ein anderes Buch von Michael Köhlmeier aufschlagen, nämlich „Matou“. Der Titelheld ist kein Mensch, sondern ein Kater, der im Verlauf seiner sieben Leben die letzten 230 Jahre der Menschheitsgeschichte aktiv durchlebt – von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart (das Buch erschien 2021). Matou, diese Mischung aus dem „Gestiefelten Kater“ der Brüder Grimm, E.T.A. Hoffmanns „Kater Murr“ und Gottfrieds Kellers „Spiegel“ sowie Köhlmeiers eigenen Katzenphantasien, versteht die Sprache der Menschen, kann sich sogar mit diesen unterhalten und mischt sich ungeniert ein. Er hat weder Respekt vor Robespierre noch vor anderen Despoten. Ich werde mehr Zeit als üblich für dieses Buch einplanen müssen, denn es hat einen Umfang von 950 Seiten.
Tagsüber widme ich mich derzeit Karl Schlögels Sachbuchroman „Der Duft der Imperien – Chanel N°5 und Rotes Moskau“ (erschienen 2020). Der emeritierte Historiker und Osteuropa-Experte beschreibt einen Vorgang am Rande der europäischen Geschichte, der aber die Historie dieses Kontinents während der letzten 120 Jahre aussagekräftig und auf literarische Weise zur Sprache bringt. Es geht zunächst um das Parfum „Bouquet Kaiserin Katharina II.“, das zum 300. Kronjubiläum der Romanows 1913 kreiert worden war. Durch die Turbulenzen der Revolution gelangte die Formel nach Frankreich. Sie lieferte die Grundlage für Coco Chanels Nº 5 und für sein sowjetisches Pendant Krasnaja Moskwa - Rotes Moskau, das bis heute unter diesem Namen produziert wird. Verantwortlich für die sowjetische Parfümindustrie war Polina Schemtschuschina, die Frau des Außenministers Molotow. Sie fiel später einer stalinistischen Säuberungskampagne zum Opfer - und Coco Chanel kollaborierte mit den deutschen Besatzern. Aber auch der Klassenkampf zwischen Adel, Bourgeoisie und Arbeiterschaft am Ende der Zarenzeit und zu Beginn der Sowjetunion wird anhand der Düfte, der angenehmen und der extrem stinkenden, exemplarisch erzählt.
Ich habe laut meinen pedantisch geführten Aufzeichnungen seit dem 8. Lebensjahr etwa 1.800 Bücher vollständig gelesen, ein knappes Tausend habe ich angelesen. Davon sind zwei Drittel der schöngeistigen Literatur zuzurechnen, der Rest entfällt auf wissenschaftliche Veröffentlichungen (Philosophie, Sprachphilosophie, Wissenschaftstheorie, Rechtswissenschaft und Theologie). Außerdem habe ich zwischen 1956 und 1969 Groschenheftromane geradezu verschlungen: Es waren schätzungsweise um die 100 „Billy Jenkins“-Hefte und ebenso viele aus der Serie „Tom Prox“. Ab dem 12 Lebensjahr standen „Bastei-Wildwest-Romane“ im Zentrum meines literarischen Interesses, es dürften um die 250 gewesen sein. Mit 15 wechselte ich zu den Krimis. Abwechseln goutierte ich „Kommissar X“ (knapp 100 Hefte) und „Jerry-Cotton“, der die persönliche Bestenliste mit mindestens 500 unschlagbar führte.
Meine heutige private Bibliothek umfasst ca. 4.000 Bücher (gebundene Ausgaben, Taschenbücher und Reclam-Hefte), folglich ist ein Drittel noch ungelesen. Vor diesem Hintergrund ist es schwer, ein schönstes oder interessantestes Buch zu bestimmen.
Aber eines genießt einen Spitzenplatz. Es ist die Sammlung „Der Gnadenstoß“ von Ambrose Bierce, einem US-amerikanischen Autor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Erzählungen sind auch als „Geschichten aus dem Bürgerkrieg“, „Erzählungen von Soldaten und Zivilisten“ oder „Der Mönch und die Henkerstochter“ in deutschsprachigen Übersetzungen erschienen. Ihr Thema ist der amerikanische Sezessionskrieg von 1861-1865, der auch Bürgerkrieg (Civil War) genannt wird. Sie verherrlichen nicht den Krieg, im Gegenteil. Sie zeigen, dass Menschen in Ausnahmesituationen sich meistens falsch verhalten und vorher hochgehaltene moralische Grundsätze verdrängen. Trotz dieser misanthropischen Tendenz sind sämtliche Geschichten äußerst spannend.
Skeptisch bin ich gegenüber Literaturpreisen, die auf Marketingaktionen des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und der Verlage beruhen (z.B. Longlist und Shortlist zum Deutschen Buchpreis). Die Begründungen der Jury überzeugen mich nicht. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass man gängigen politischen Themen Tribut zollte. Etwa der Emanzipation der Frauen oder der Überwindung des Rassismus. Das sind zweifellos wichtige Themen. Gerade deshalb dürfen sie nicht so kunstlos abgehandelt werden. Denn exakt diese schriftstellerische Kunst vermisse ich bei den allermeisten der ausgewählten Autoren.
Die vielen Bücher haben mich im Lauf der Jahre dazu inspiriert, selbst zu schreiben (neben meiner beruflichen Tätigkeit als Redakteur und Marketingexperte in Buch- und Zeitschriftenverlagen). Zur Veröffentlichung eingereicht habe ich nur wenige Manuskripte. Darunter ein Buch für junge Erwachsene mit Beispielgeschichten für Zivilcourage („Von Abenteuer bis Zivilcourage“), ein Handbuch für semiprofessionelle Redakteure der kleinformatigen Publizistik, bei dem ich Ko-Autor war („Werkbuch Kleinpublizistik“), ein Rechtsratgeber für Kirchengemeinden („Finanzierungstipps für Gemeinden“) sowie eine kurzgefasste Literaturgeschichte über Krimis, die im religiösen Raum spielen („Pfarrer, Rabbis, Detektive“). Erschienen sind sie zwischen 1987 und 2001 und sie sind längst vergriffen. Im Frühjahr dieses Jahres habe ich zusammen mit dem Kollegen Herbert Storn das „Schwarzbuch Frankfurter Verhältnisse“ verfasst, das die Hintergründe des Sturzes von Ex-Oberbürgermeister Peter Feldmann beleuchtet. Erste und zweite Auflage sind vergriffen. Über eine ergänzte dritte Auflage denken wir nach.
Die meisten meiner Texte, die halbwegs literarischen Ansprüchen genügen, sind seit der Mitte der 1980er Jahre in kleinen Literaturzeitschriften erschienen. Häufig handelt es sich um Kurzerzählungen über Ereignisse in meiner Kindheit und Jugend. Meine Heimat, das Ruhrgebiet, hat ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Menschen zusammengeführt und das Wachsen vieler Originale begünstigt. Die Arbeit unter Tage und vor den Hochöfen prägte mehrere Generationen. Das hat die jeweiligen Herkünfte überlagert. Aber auch Vorgänge aus der 68er Zeit, die bis weit in die 1970er Jahre abstrahlte, haben sich in den knapp 800 Manuskriptseiten niedergeschlagen. Vielleicht stelle ich eine Auswahl zu einem Buch zusammen: autobiografische Skripte zu einer geschichtlichen Epoche. Mal sehen.
Klaus Philipp Mertens