In der „Terra-X-Kolumne“ von „ZDFheute“ am 1. Oktober fiel mir ein Beitrag von Prof. Henning Lobin auf. Er ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache – IDS - in Mannheim und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim. In dem Artikel behandelt er das Thema „Gendern“ in sehr moderater Weise, für mein Gefühl geht er geradezu friedlich und schiedlich damit um. Das könnte daran liegen, dass mehrere Gesichtspunkte nicht erwähnt werden.
Beispielsweise die Frage, ob eine gerechte, speziell gendergerechte, Sprache überhaupt möglich und sinnvoll ist. Denn dazu müssten entsprechende Wertzumessungen fester Bestandteil der ausschlaggebenden Wörter sein. Durchforscht man jedoch die Literatur, sowohl die schöngeistige als auch die wissenschaftliche, stellt man fest, dass sich Gutes und Böses sowie Gerechtes und Ungerechtes üblicherweise erst aus dem Kontext ergeben und sich die Autoren vielfach mit eindeutigen Bewertungen zurückhalten und diese dem Leser überlassen. Bei der Lektüre von Gerichtsakten, bei denen es von vornherein um Konkretion geht, verstärkt sich dieser Eindruck noch.
Ein anderer Punkt ist die Frage, ob die deutsche Sprache tatsächlich unpräzise ist hinsichtlich der geschlechtlichen Zuordnung von Personen. Konkret: Gehen die Frauen unter? Sind sie lediglich mitgemeint? Gibt es nicht hinreichend Ausdrücke für Frauen und Männer? Ist die abstrakte Rede von Menschen Teil einer Diffamierung? In diesem Zusammenhang wäre es hilfreich gewesen, auf das Epikoinon zu verweisen, jenes genderneutrale Maskulinum, welches seit Jahrhunderten Bestandteil der Grammatik ist (Prof. Eckhard Meineke hat unlängst in seinem Buch „Studien zum genderneutralen Maskulinum“ darauf verwiesen).
Aber auch der Streit innerhalb des Feminismus kommt nicht zur Sprache. In meinem beruflichen Umfeld, der Publizistik, protestiert eine übergroße Mehrheit emanzipierter Frauen dagegen, auf eine „*in“ bzw. auf „*innen“ reduziert zu werden, sich also ständig über einen Mann definieren zu sollen und dadurch zum Anhängsel zu werden.
Viele erinnert das an die Sprache des NS-Staats, der Frauen als „Mütter im Vaterland“ deklassierte (Claudia Koonz, „Mütter im Vaterland. Frauen im Dritten Reich“, 1994). Tatsächlich wurde von den Nazis willkürlich und massiv in die Sprache eingegriffen. Der faschistische Obrigkeitsstaat nutzte militärische Begriffe sowie rassistische und autoritäre Vorurteile zur Beschreibung des Alltags. Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer hat das in seinem „Notizbuch eines Philologen - Lingua Tertii Imperii“ (1946 ff.) ausführlich beschrieben. Die Journalisten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind haben ebenfalls eine Sammlung der ideologischen Sprachmanipulation im Dritten Reich verfasst: „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ (1945/46 als Zeitschriftenaufsätze, 1957 erschien die erste Buchausgabe).
Da Menschen vor allem mit Hilfe der Sprache kommunizieren, sollten die Vorbehalte der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem Gendern ernst genommen werden. Auch dann, wenn die Argumente dem gefährlichen „gesunden Volksempfinden“ entnommen zu sein scheinen. Bezeichnenderweise hat es die rechtsextreme AfD verstanden, sich bei den Gender-Gegnern einzureihen. Denn eigentlich müssten AfD und andere „völkisch“ Gesinnte auf „Teufel komm raus“ gendern. Anhängsel wie „*in“ und „*innen“ entsprechen einem überholten Rollenverständnis, das Frauen vor allem von Konservativen und Reaktionären zugewiesen wird.
Teile des Bildungsbürgertums haben sich in dieser Frage übereilig dem fundamentalistischen Feminismus unterworfen, anstatt zu prüfen, ob auch Sprache an Kipppunkte gelangen kann, wo sie rückwärtsgewandt, reaktionär und antidemokratisch wird. Sprache muss sich durchaus gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen, allerdings in genuiner Weise. Zudem hat sich mancher Zeitgeist gar nicht selten als Ungeist erwiesen.
Der „Morgen-Newsletter des Börsenblatts des deutschen Buchhandels“, ein täglicher Informationsdienst für Verlage, Buchhandlungen und Fachmedien, leitet Ausschnitte zu Branchenberichten durch eigene Texte ein, in denen fast ausnahmslos gegendert wird. Klickt man sich zu den Originalen durch, stellt man jedoch fest, dass in über 90 Prozent der Meldungen gar nicht gegendert wird. Eine derartige Sprachregelung setzt sich dem Verdacht aus, manipulieren zu wollen. Denn die Absicht ist erkennbar: Man positioniert sich ohne die notwendige Reflexion der Sachverhalte in einem Kulturkampf. Dabei sollte der Börsenverein aus seiner eigenen Geschichte gelernt haben. 1933 beteiligte er sich in der ersten Reihe an den Bücherverbrennungen der Nazis.
Klaus Philipp Mertens