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Archiv "Vom Geist der Zeit" | Literatur und Kultur

Rechtschreibung ade?

Eine Antwort auf die jüngste PISA-Studie

© MPG

Da ich von meinen Gesprächspartnern, Zuhörern und Lesern verstanden werden möchte, halte ich mich möglichst genau an die Regeln der deutschen Sprache. Das beginnt bei der Wahl der für die Beschreibung der jeweiligen Tatsachen exakt zutreffenden und aussagestärksten Wörter. Die korrekte Einhaltung der Grammatik und der definierten Rechtschreibung und Zeichensetzung bilden die anderen Bestandteile meines vor allem in Grundschule und Gymnasium erworbenen Artikulationsvermögens. Hochschule und diverse Lehrgänge haben später darauf aufgesetzt.

Das alles hat nichts mit traditionellen, möglicherweise angestaubten Tugenden, gar Sekundärtugenden, zu tun. Vielmehr entspricht dieses Sprachverständnis dem gesellschaftlichen Konsens über die wesentlichen Elemente der Kommunikation. Auch diese war und ist Veränderungen unterworfen. Doch sämtliche Revisionen, die Bestand haben, entwickelten sich in genuiner Weise aus dem jeweils vorhandenen Sprachschatz.

 

Wer die Gelegenheit findet, im 33-bändigen „Deutschen Wörterbuch“ zu blättern, das von den Brüdern Grimm im Jahr 1838 begründet wurde, wird das nachvollziehen können. Und dabei feststellen, dass Rechtschreibung und Zeichensetzung häufiger an den Sprachgebrauch angepasst wurden. Allerdings geschah das in enger Anlehnung an Wortbedeutungen und Grammatik sowie Sprachlogik.

 

Bemerkenswert ist, dass die Brüder Grimm sich für die Kleinschreibung der Substantive einsetzten; lediglich Satzanfänge und Eigennamen schrieben sie groß. Dieser Gesichtspunkt ließ sich jedoch in der Folge nicht durchhalten, vermutlich, weil die Anforderungen an die sprachliche Exaktheit mit jeder neuen Epoche stiegen. Dazu hat die Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere moderne Erzählungen und Romane, beigetragen, aber auch das seit 1900 endgültig in sämtlichen deutschen Ländern eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch sowie die Strafgesetze. Nicht zuletzt hatte auch die Textrevision der Luther-Bibel von 1912 daran ihren Anteil. Ebenso machte der Siegeszug der Naturwissenschaften eine sprachliche Tiefe, nämlich die Fähigkeit zum Differenzieren, notwendig.

 

Es fällt auf, dass Nachlässigkeiten im Sprachgebrauch selten bis gar nicht Veränderungen in Gang setzten. Allerdings führten tolerierte Achtlosigkeit zu einer Teilung der Gesellschaft in verschiedene Bildungsgruppen. Die Akademiker sprachen zu einem großen Teil Hochdeutsch, in landwirtschaftlich geprägten Regionen herrschten lange die Dialekte vor, während die Industriearbeiterschaft ein im Wortschatz reduziertes einfaches Hochdeutsch pflegte. Deren Repräsentanten hingegen, die Vorsitzenden von SPD und Gewerkschaften, bemühten sich, das Deutsch der gebildeteren Klassen zu verwenden, um als Gesprächspartner von Regierung und Kapital anerkannt zu werden. Gerade die Sozialdemokratie setzte bei ihrer Klientel auf Bildung. Damit war sie erfolgreich, allerdings scheint diese Errungenschaft gefährdet zu sein.

 

Ideologisch bedingte Eingriffe in die Sprache nahmen die Nationalsozialisten vor. Einerseits versuchten sie, Begriffe aus anderen Sprachen zu verdeutschen, die längst Bestandteil des Deutschen geworden waren (z.B. Adaption, Addition, Antenne, Arena, Membrane, Okzident, Plagiat, Portemonnaie, Trottoire).

Andererseits wurden militärische Begriffe in den Alltag eingeführt. Beispielsweise: Ausrichtung, Ausführung, Einsatz, querschießen, Sektor, tragbar/untragbar oder verwenden. Dem männlichen NS-Leitbild von den „Arbeitern der Stirn und der Faust“ entsprach die neu definierte Klasse der „Kulturschaffenden“. Die Rolle der Frau fand ihren Niederschlag in der Forderung, „Mutter im Vaterland“ zu sein. Sie taugte nur etwas als ewiges Anhängsel des Mannes.

Die Journalisten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind haben das in ihrer 1945 begonnenen Artikelreihe „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ (1957 als Buch erschienen) eindrucksvoll beschrieben. Auch Victor Klemperer griff in seinem Buch „Lingua Tertii Imperii“ das Thema auf (1. Auflage 1946).

In der synthetischen Art und Weise des Genderns begegnet uns das Unsägliche heute in neuer Form: Hörer*innen, Leser*innen. Manche, so scheint es, wissen gar nicht, was sie reden und schreiben und welchen Ungeist sie neu aufleben lassen.

 

Zugegeben: Auch mir unterlaufen Rechtschreibfehler. Vor allem, seit ich auch privat den PC als Schreibmaschine nutze (1982 wurde der COMMODORE C64 erschwinglich). An der mechanischen Schreibmaschine hingegen, seit 1964 bei mir in Gebrauch – noch zu Schulzeiten, unterliefen mir kaum Flüchtigkeitsfehler; ich arbeitete deutlich konzentrierter. Nahezu fehlerfrei waren meine handschriftlich erstellten Aufsätze und sonstigen Skripte. Noch heute führe ich einen ausführlichen Terminkalender und ein Projektbuch mittels Rollerball bzw. Füllfederhalter. In meinem Berufsfeld, dem Verlagswesen (Bücher, Fachzeitschriften, Agenturdienste), bin ich bis heute keine Ausnahme. Obwohl ich meine publizistische Tätigkeit mittlerweile etwas reduziert habe, unterhalte ich noch viele Kontakte in die Szene. Es hat den Anschein, dass man sich dort nach wie vor mit den „ewigen“ Problemen herumschlägt: Der Suche nach vorbildlich recherchierten und sprachlich optimal verfassten Texten, ohne Grammatik- und Rechtschreibfehler.

 

Klaus Philipp Mertens