Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Wiege der deutschen Demokratie?

Anmerkungen zum 175. Jubiläum der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 18. Mai 1848

Historisches Gemälde aus dem Archiv des Deutschlandfunks

 

Demokratie bedeutet nicht nur einen verfassungsrechtlich sanktionierten Zugang aller Bürger zum parlamentarischen Verfahren, also wählen und gewählt werden zu können. Sie impliziert auch das Vorhandensein eines demokratischem Bewusstseins, das aus Kenntnis und Erkenntnis resultiert und in denen sich ein offener gesellschaftlicher Diskurs spiegelt.

Für Friedrich Engels, den Chronisten und Mitgestalter der sozialen und demokratischen Bewegung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, waren die damaligen Verhältnisse geprägt von der Bewusstlosigkeit der unmittelbar Beteiligten, also der Bevölkerungsmehrheit.

 

Auf das Hambacher Fest von 1831, wo Reden wie im revolutionären Frankreich und Italien gehalten wurden (wie der Historiker Golo Mann anerkennend betonte), hätte kein Ständeparlament wie die Frankfurter Paulskirchenversammlung folgen dürfen. Schließlich hatte die gescheiterte Märzrevolution von 1848 endgültig gezeigt, wer die Menschenrechte bedrohte, nämlich Fürst Metternich und Konsorten.

 

Dass diese Versammlung aus einhundert Professoren, zweihundert Juristen, einer Vielzahl hoher Verwaltungsbeamter, Bürgermeister, Bankiers, Fabrikanten, Gutsbesitzer, einigen Ärzten und Handwerksmeistern, aber keinem Arbeiter, den Erzherzog Johann von Österreich zum Reichsverweser wählte, war nicht verwunderlich. Das entsprach dem Kalkül Heinrich von Gagerns, des Präsidenten der Nationalversammlung. Statt den alten Mächten den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen, wollte er sie einbinden. Doch wer stimmt schon seiner eigenen Entmachtung zu?

 

So blieb es in Berlin, in Wien und letztlich auch in Paris beim Status quo. Die Gespenster von gestern, die Französische Revolution und Napoleon, galten als besiegt. Solange, bis Karl Marx in seinem Londoner Exil, das von Engels finanziert wurde, die Hegelsche Methode von These, Antithese und Synthese anwendend, das Erbe des europäischen Geistes zu einem Demokratieentwurf zusammenfügte. Nämlich die Hinterlassenschaft der klassischen deutschen Philosophie (Kant, Lessing, Hegel) einschließlich der kritischen protestantischen Theologie (Hermann Samuel Reimarus, David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach), der englischen Nationalökonomie (Adam Smith, David Ricardo) und die Schriften der französischen Sozialisten (Henri de Saint-Simon, Charles Fourier, Pierre-Joseph Proudhon). Auf dieser theoretischen Grundlage formierte sich die Arbeiterbewegung, aus der in Deutschland die SPD hervorging.

 

Doch Europas größte Partei scheiterte am Vorabend des Ersten Weltkriegs (ähnlich wie ihre Schwesterparteien in anderen Ländern) an ihrem irrigen Staatsverständnis. Nämlich an einem falschen Bewusstsein, das nicht zu unterscheiden vermochte zwischen einer demokratischen Kulturnation und dem Gebilde aus Nationalstaat plus Nationalismus plus Revanchismus.

 

Demokratie ist mehr als regelmäßig stattfindende freie Wahlen und auch mehr als eine Meinungsbildung, die von Opportunitätsprinzipien gefiltert wird. Vielmehr müsste sie eine permanente soziale Interaktion sein. Dies setzt eine alle Schichten umfassende hohe Allgemeinbildung voraus. Und im selben Maße die Existenz von Medien, die auf der Seite der Beherrschten und nicht der Herrschenden stehen, wie es der Schriftsteller und Journalist Eric Reger forderte (Verfasser des Romans „Union der festen Hand“, erster Chefredakteur des Berliner „Tagesspiegel“).

 

Das demokratische Prinzip ist bereits gefährdet, wenn ein nennenswerter Teil der Bevölkerung für eine faschistoide Partei wie die AfD votiert. Dann droht die „Bildungsferne Republik Deutschland“ und mit ihr der Verlust von Anstand und Demokratie.

 

 

Klaus Philipp Mertens