Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Vom Westen provoziert und von ukrainischen Nazis bedroht?

Wladimir Putins Dolchstoßlegenden

Ukrainische Fahne mit Symbol der Friedensbewegung © m-rg

Bedroht die NATO Russland? Und haben rechtsextreme Kräfte in der Ukraine versucht, die Herrschaft an sich zu reißen? Es war nicht klug von der NATO, ehemalige Staaten der Sowjetunion wie Estland, Lettland und Litauen, die sich vor einer erneuten Expansion der Russen fürchten, zum Schauplatz militärischer Demonstrationen zu machen. Mitgliedschaft im Bündnis ja, aber unter Verzicht auf Frontstaatenvisionen. Allerdings: Diese Länder haben Russland nie bedroht. Aber sie liefern Putin jene Ausreden, mit denen er seit Jahren den schlecht Informierten im eigenen Land seine neuen Hegemonialmachtphantasien begründet. Auch für seinen Einmarsch in der Ukraine.

 

In der Debatte über Putins Krieg gegen die Ukraine wird immer wieder von interessierter Seite behauptet, dass das Land in Wirklichkeit von Rechtsradikalen beherrscht würde. Doch der tatsächliche Einfluss eines rechten Sektors ist vor dem Hintergrund der Präsidentschaftswahlen von 2019 zu relativieren. Denn Wolodymyr Selenskyj konnte bei der Stichwahl 73 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. In seinem Wahlprogramm fanden sich neben Forderungen nach mehr direkter Demokratie auch ein ausdrückliches Bekenntnis zum Kampf gegen Korruption. Ebenso sprach er sich für eine Westbindung aus. Die Kreise, welche andere, vor allem rechtsradikale Positionen eingenommen haben und nach wie vor daran festhalten, dürften eher auf Putins Linie liegen. Ob sie tatsächlich von entscheidendem Einfluss sind, darf bezweifelt werden. Denn falls es so wäre, hätte die Zeit für den Diktator im Kreml gespielt, er hätte nur abzuwarten brauchen. Vielleicht entspricht ihre Stärke dem Niveau, das hierzulande die AfD in ostdeutschen Landesparlamenten erreicht. Möglicherweise sogar der des Rassemblement National (vormals Front National) in Frankreich.
 

Und eine weitere haltlose Legende wird verbreitet. Putin sei vom Westen gedemütigt worden. Der vermeintlich Erniedrigte hat sich seit seiner Wahl zum russischen Präsidenten im Jahr 2000 keineswegs als hochsensible und verantwortungsvoll handelnde Persönlichkeit erwiesen. Zwei Jahrzehnte als Präsident, Ministerpräsident und erneut Präsident hinterließen eine deutliche Blutspur. In die Auseinandersetzungen zwischen ehemaligen Sowjetrepubliken, die bereits zur Zarenzeit unter Zwang eingegliedert worden waren und die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion untereinander und gegenüber der Zentralregierung immer wieder befehden, hat er mit harter Hand eingegriffen, um zusammen mit Belarus und Kasachstan einen Gegenpol zu Staaten mit tendenzieller Westausrichtung wie Georgien, Moldawien und Ukraine bilden zu können. Wobei Gebietsansprüche gegenüber diesen Ländern nicht vom Tisch sind. Letzteres zeigte sich 2014 bei der Annektierung der Krim sowie der Unterstützung von Separatisten im Donezk-Gebiet. Und jetzt beim aktuellen Angriff.
 

Der Westen hat die Annexion der Krim damals zähneknirschend hingenommen, vor allem, weil sich die Bevölkerung dort mehrheitlich aus Russen zusammensetzt und die Halbinsel über mehr als eineinhalb Jahrhunderte Teil Russlands bzw. der Sowjetunion war. Diese Zurückhaltung, die allerdings mit diplomatisch verpackten Drohungen verknüpft war, verstand sich als Signal. Einerseits wollte man weitere Konflikte vermeiden, aber andererseits zum Ausdruck bringen, dass man zusätzliche Gebietsansprüche nicht akzeptieren würde, vor allem dann nicht, falls diese die nach der Auflösung der Sowjetunion vereinbarte Ordnung infrage stellen.
Rückblickend kann man darüber streiten, ob diese Strategie klug und richtig war. Möglicherweise hätte auch eine eindeutigere Haltung gegenüber den kriminellen Warlords im Donbass gezeigt, wo die Grenzen des Zumutbaren für demokratische Staaten liegen.
 

Nach meiner Einschätzung viel entscheidender und verhängnisvoller war und ist es, dass beim Kampf der politischen Systeme nach wie vor zu stark auf die rein militärische Karte gesetzt wird. Putin fürchtet sich offensichtlich wenig vor den Truppen Selenskyjs (selbst falls diese stärker wären), aber umso mehr vor einer aufgeklärten und demokratischen Öffentlichkeit - einschließlich einer freien Presse - in seinem eigenen Land. Zwar könnte er auch zivile Massenproteste im Kugelhagel ersticken lassen. Dadurch aber würde er sich Millionen Menschen, auf deren Wegschauen er angewiesen ist, zu Todfeinden machen. In einem Land wie Russland, das immer mehr durch große Städte geprägt ist, in denen gut ausgebildete Bürger wohnen, würde er sich dadurch auf einen teils gewaltfreien, teils gewaltbereiten Guerillakrieg einlassen.
 

Die Friedensbewegung zwischen Mitte der 1960er bis zum Ende der 1980er Jahre war nicht naiv. Von Ausnahmen abgesehen war sie auch nicht im üblichen Sinn pazifistisch gesinnt. Als Teilnehmer diverser Aktionen erinnere ich mich noch eines Ausspruchs, der Ghandi zugeschrieben wurde: „Mehr noch als die Gewalt verabscheuen wir die Dummheit.“
 

Wir setzten auf Gewaltfreiheit, aber nicht generell auf Gewaltlosigkeit. Und wir setzten auf das Überlisten, vor allem auf die chinesische Kampftechnik der Strategeme. Eines davon lautet: „Den Gegner durch Gefangennahme des Anführers unschädlich machen.“ Ein anderes: „Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen.“ Oder: „Auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen.“ Jedes davon wird nicht leicht umzusetzen sein. Aber in Kombination mit schärfsten wirtschaftlichen Sanktionen, internationaler Isolierung und einer flexiblen, auch Provokationen einschließenden flexiblen Demonstrationstaktik in Moskau und anderen Städten Russlands erscheint diese Strategie als realistisch und erfolgversprechend.
Ich erinnere mich an die Anti-Atomkraft-Demo mit 100.000 Teilnehmern in Hannover am 31. März 1979. Wenige Tage zuvor war das Kernkraftwerk „Three Mile Island“ in Harrisburg (Pennsylvania) havariert. Oder an die Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten, als sich 300.000 Menschen versammelten, zwei Jahre später waren es sogar 500.000. Am 4. November 1989 demonstrierten 500.000 Unerschrockene auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz für Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der DDR.
Und ich stelle mir vor, dass sich auf dem Gartenring in Moskau und in den Metro-Stationen eine Million Menschen zum Protest versammeln, weil sie (über)leben wollen und das Recht auch den Ukrainern zubilligen. Es bedürfte eines Masseneinsatzes von Polizei und Armee, um solche Ströme zu kanalisieren und aufzulösen. Käme es zu Gewalt, zufällig oder geplant, bedeutete das Bürgerkrieg. Wladimir Putin und seine Kreml-Gang haben keine Erfahrungen mit zivilen Protestaktionen, die prägend waren für die demokratische Streitkultur des Westens. Aber die Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit, die zurzeit einen Höhepunkt erreicht, zeigt, dass er Angst hat.

In den meisten Generalstäben werden solche Szenarien (nicht nur Russland betreffend) theoretisch durchgespielt. Eine Erkenntnis daraus heißt: Man muss nicht bis an die Zähne bewaffnet sein, um „den Tiger vom Berg in die Ebene zu locken“. Putin wird darüber lachen. Und das wäre sein nächster schwerer Fehler.


"Das kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens