Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Über eine gewaltfreie Rettung der Ukraine

Was fürchtet Putin mehr? Kanonen oder Meinungsfreiheit?

Kreml mit Fahne der Ukraine und Symbol der Friedensbewegung © mrg

Der zivile gewaltfreie Gegenangriff muss in Russland stattfinden. In den großen Städten des Landes. Denn die militärische Lage der ukrainischen Verteidiger scheint mit jedem Tag aussichtsloser zu werden. Vieles deutet auf einen langen, vielleicht jahrelangen Guerillakrieg hin. Ein solcher wäre möglicherweise nicht aussichtslos, aber er würde ständig weitere Opfer fordern. Und er würde nicht allein Putin und seine Vasallen treffen. Sondern das gesamte russische Volk. Dieses liefe Gefahr, seinen anerkennten Platz unter den Völkern zu verlieren. Ähnlich wie ihn das deutsche Volk durch die von den Nazis heraufbeschworene Katastrophe verloren hatte. Es war die friedliche Revolution in der DDR, mit der die Welt davon überzeugt werden konnte, dass Deutschland zu Demokratie, Freiheit und Frieden zurückgefunden hat. Das russische Volk sollte diese Erfahrung verinnerlichen und darnach handeln - sofort.
 

Man kann darüber streiten, ob die Signale, die Putin in 22 Jahren aussendete und die bei genauer Analyse auf einen neuen russischen Imperialismus schließen ließen, im Westen leichtfertig oder vorsätzlich falsch bewertet wurden. Nach meinem Eindruck interpretierte man sie als erlaubte Sonderform der Globalisierung, die auf eine allgemein akzeptierte Teilung, Drittelung oder Vierteilung der Welt hinauslief. Faktisch auf eine Marktwirtschaft der monopolkapitalistischen Systeme. Der Totalitarismus des nachsowjetischen Russlands wurde unter der Voraussetzung in Kauf genommen, dass er die zwar ungeschriebene, aber tatsächlich vorhandene neoliberale Weltverfassung nicht störte. Und für den Fall, dass es nicht funktionierte und sich der neue Zar nicht wie seine westlichen Mitbewerber verhalten würde, sondern ähnlich wie seine Vorgänger, also feudalistisch-nationalistisch, tröstete man sich mit dem Abschreckungspotential der NATO, dem aber 6.000 Atomsprengköpfe Russlands gegenüberstehen. Dieser vermeintliche Schutzschild erweist sich nunmehr als Garant eines militärischen Freiraums unterhalb der Schwelle zur nuklearen Vernichtung. Er erlaubt Putin, seine hegemonialen Phantasien in exzessiver Weise und völlig rücksichtslos auszutoben.
 

Die Friedensbewegung, die vor etwa 45 Jahren ihre Höhepunkte erlebte, hat eigentlich immer darauf hingewiesen, dass die militärische Karte nur ein Blatt beim politischen Poker sein kann. Den Beweis liefert Putin selbst. Er fürchtet sich offensichtlich wenig vor den Truppen Selenskyjs (selbst falls diese deutlich stärker wären), aber umso mehr vor einer aufgeklärten und demokratischen Öffentlichkeit - einschließlich einer freien Presse - in seinem eigenen Land. Zwar könnte er auch zivile Massenproteste im Kugelhagel ersticken lassen. Dadurch aber würde er sich Millionen Menschen, auf deren Wegschauen er angewiesen ist, zu Todfeinden machen; Menschen, die vor seiner Haustür leben. Im eigenen Land würde er sich dadurch auf einen teils gewaltfreien, teils gewaltbereiten Guerillakrieg einlassen, den er ab einem bestimmten Punkt nicht mehr steuern könnte.
 

Die Friedensbewegung zwischen Mitte der 1960er bis zum Ende der 1980er Jahre war nicht naiv. Als Teilnehmer diverser Aktionen erinnere ich mich noch eines Ausspruchs, der Ghandi zugeschrieben wurde: „Mehr noch als die Gewalt verabscheuen wir die Dummheit.“
 

Wir setzten auf Gewaltfreiheit, aber nicht generell auf Gewaltlosigkeit. Und wir setzten auf das Überlisten, vor allem auf die chinesische Kampftechnik der Strategeme, die uns über den Umweg der Mao-Bibel bekannt wurde. Eines der 36 Hauptstrategeme lautet: „Den Gegner durch Gefangennahme des Anführers unschädlich machen.“ Ein anderes: „Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen.“ Oder: „Auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen.“
Jedes davon wird nicht leicht umzusetzen sein. Aber in Kombination mit schärfsten wirtschaftlichen Sanktionen, internationaler Isolierung und einer flexiblen, auch Provokationen einschließenden flexiblen Demonstrationstaktik in Moskau und anderen Städten Russlands erscheint diese Strategie als realistisch und erfolgversprechend.
 

Ja, der zivile und gewaltfreie Gegenangriff muss in Russland stattfinden. In den großen Städten des Landes.
 

Ich erinnere mich noch gut an die Anti-AKW-Demo mit 100.000 Teilnehmern in Hannover am 31. März 1979. Wenige Tage zuvor war das Kernkraftwerk „Three Mile Island“ in Harrisburg (Pennsylvania) havariert. Von den vielfach belächelten AKW-Gegnern sprang der Funke über auf die Zuschauer am Straßenrand. Oder an die Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten, als sich 300.000 Menschen versammelten, zwei Jahre später waren es sogar 500.000. Am 4. November 1989 demonstrierten 500.000 Unerschrockene auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz für Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der DDR. Der Aufstand der Massen vollzieht sich irgendwann nach eigenen Regeln.
 

Und so stelle ich mir vor, dass sich auf dem Gartenring in Moskau und in den Metro-Stationen eine Million Menschen zum Protest versammeln, weil sie (über)leben wollen und dieses Recht auch den Ukrainern zubilligen. Es bedürfte eines Masseneinsatzes von Polizei und Armee, um solche Ströme zu kanalisieren und aufzulösen. Käme es zu Gewalt, zufällig oder geplant, bedeutete das Bürgerkrieg.
 

Wladimir Putin und seine Kreml-Gang haben keine Erfahrungen mit zivilen Protestaktionen, die prägend waren für die demokratische Streitkultur des Westens. Aber die Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit, die zurzeit einen Höhepunkt erreicht, zeigt, dass er Angst hat.
In den meisten Generalstäben werden solche Szenarien (nicht nur Russland betreffend) theoretisch durchgespielt. Die Erkenntnis lässt sich in einem Strategem zusammenfassen: Man muss nicht bis an die Zähne bewaffnet sein, um „den Tiger vom Berg in die Ebene zu locken“. Putin wird darüber lachen. Und das wäre sein nächster schwerer Fehler.

"Das kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens