Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Seid schlau und listig wie die Füchse und nehmt euch in Acht vor furchtbaren Juristen

Die Aktionen der „Letzten Generation“

© ARD

 

Ja, ich habe Verständnis für die Aktionen der „Letzten Generation“. Abgesehen von Attacken auf Kunstgegenstände, die ich für infantile und kontraproduktive Ersatzhandlungen halte. Die Maßnahmen deuten auf einen Mangel an kritisch-historischem Bewusstsein sowie auf eine Fehleinschätzung des revolutionären Charakters der bildenden Kunst hin.

 

Allerdings. Auch eine Straßenblockade greift zu kurz. Sie setzt lediglich an einer nachgelagerten Ursache der Klimakatastrophe an, nämlich dem überbordenden Individualverkehr. Die Ausbeutung der Erde, die Ausbeutung von Menschen sowie ihre Degradierung zu bloßen Konsumenten (siehe Herbert Marcuse: „Der eindimensionale Mensch“), die schier grenzenlose Produktion von Nutzlosigkeiten unter Hinterlassung von unendlichem Müll sowie die geplante Verdrängung von Alternativen kommen leider auch bei den Demonstranten nicht explizit zur Sprache.

 

Bereits im Jahr 1956 legte der deutsche Physiker Eduard Justi das Konzept für eine alltagstaugliche Brennstoffzelle vor und meldete es zum Patent an (das war Stoff im Physikunterricht meiner Untersekunda 1963/64). Wer den Weg, den die Idee genommen hat, nachrecherchieren will, stößt vor allem auf Nichterwähnung der Tatsachen. Immerhin kann als gesichert gelten, dass Ölmultis und Autoindustrie sie in der Versenkung verschwinden ließen, um ihre Investitionen in Erdöl und Verbrennungsmotoren nicht zu gefährden. Die kapitalistische Industriegesellschaft ist in die Klimaveränderung mit ihren katastrophalen Folgen nicht hineingeschliddert, sie hat sie bewusst ausgeblendet und als Aufgabe für künftige Generationen definiert.

 

Es ist sicherlich mutig und ehrenvoll, sich auf Fahrbahnen festzukleben. Aber die Proteste müssten effizienter sein, müssten darauf hinauslaufen, den „versteinerten Verhältnissen die eigene Melodie vorzuspielen, um sie zum Tanzen zu bringen“ (Karl Marx). Der automobile Individualverkehr funktioniert vor allem noch deswegen, weil ein großer Teil der Menschen werktäglich die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt, um zur Arbeit zu gelangen. Würden diese Überzeugungstäter aufs Auto umsteigen, bewegte sich nichts mehr, es entstünde der „Größte anzunehmende Stau – GaS“. Mein Tipp an die „Letzte Generation“: Ruft auf zur Aktion „Freie Fahrt für freie Bürger“. Effektvoller ließe sich der Individualverkehr nicht demaskieren als durch intensivste Inanspruchnahme. Es würde nicht lange dauern, bis Minister Wissing vor die Medien träte, eine Städtemaut für Pendler ankündigte sowie die unverzügliche Einführung von Tempo 100.

 

Und noch ein gutgemeinter Rat an die Sprecher der „Letzten Generation“: Bitte verwechseln Sie in Interviews und TV-Talkshows nicht Genus und Sexus. Und lesen Sie bitte Victor Klemperers Tagebuch „Lingua Tertii Imperii“, damit Sie Ihre wichtigen Botschaften nicht in Nazi-Sprache verkünden. Ich halte Sie nicht für rechtsradikal, eher für Opfer der deutschen Bildungskatastrophe. Die Revolutionäre von 1968, denen ich mich zurechne, waren hinsichtlich ihres Sprachgebrauchs erheblich problembewusster.

 

Trotz einiger Vorbehalte teile ich die Sorgen der „Letzten Generation“ und bin davon überzeugt, dass nur ein unübersehbarer Protest, dessen Auswirkungen jeden treffen, gegen die Vernichtung der Erde helfen kann. Dieser sollte gemäß der Strategie „Seid schlau und listig wie die Füchse und nehmt euch in Acht vor furchtbaren Juristen“ erfolgen (in Anlehnung an Matthäus 10, Verse 16 und 17). Er darf keineswegs von Naivität geprägt sein.

 

Die Lobbyisten der Umweltzerstörung sehen, wie nicht anders zu erwarten, im Vorgehen der „Letzten Generation“ eine Gefahr für den neoliberalen Kapitalismus. Das beweist die konzertierte Aktion von bayerischer Landesregung, Münchener Staatsanwaltschaft und SPD-geführtem Bundesinnenministerium. Diese Kreise werfen den Umweltschützern vor, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. Als kriminelle Vereinigung nehme ich jedoch vor allem jene wahr, die wegen der Befriedigung ihres Geschwindigkeitstriebs ein allgemeines Tempolimit ablehnen und dafür Schwerverletzte und Tote sowie die Zerstörung des Klimas billigend in Kauf nehmen. Oder die E-Scooter-Hooligans, die der ehemalige Verkehrsminister Andreas Scheuer gründete.

 

Es ist viel zu tun, damit die derzeit lebenden Generationen nicht die letzten sein werden.

 

 

Klaus Philipp Mertens