Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Grüne Träume, rote Albträume und ein schwarzes Erwachen

Nach den Landtagswahlen in BW und RP und den Kommunalwahlen in Hessen

(c) Statistisches Landesamt BW

Warum wählten so viele die Grünen? Dies erscheint mir als die plausibelste Erklärung: Sie vermitteln, einem Placebo ähnlich, ein beruhigendes Gefühl. Der aufgeschlossene Staatsbürger (früher mal bei CDU, FDP und SPD zuhause) glaubt, mit seiner Stimme etwas gegen die Klimavergiftung sowie gegen den Raubbau an der Natur tun zu können. Und ebenso gegen die neokapitalistische Infiltrierung sämtlicher Bereiche der Gesellschaft. Er ahnt aber auch, dass es mit dieser Partei keine qualitative Veränderung geben wird und er sich über die Zukunft der eigenen kleinbürgerlichen Idylle keine Sorgen machen muss.
 

Das zeigte erst unlängst die Forderung von Anton Hofreiter, des Co-Vorsitzenden der grünen Bundestagsfraktion, den Bau von Eigenheimen zu unterbinden. Sie trügen zur Zersiedelung der Landschaft bei und spitzten den Mangel an bezahlbaren Mietwohnungen weiter zu. Die Reaktion des Parteiestablishments fiel zurückhaltend bis ablehnend aus. Obwohl eine ökologische und auf die Teilhabe aller Bevölkerungsschichten setzende Politik die Eigentumsfrage völlig neu denken müsste. Denn wer kann schon Rechte geltend machen an der Atmosphäre, an den Flüssen oder an Grund und Boden? Haben etwa die Götter oder ein Weltgeist einklagbare Legate an die Menschen vergeben?
 

Der grüne hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, der seine politische Karriere dem Kampf gegen Fluglärm verdankt, verteidigt seit seiner Amtsübernahme die privatwirtschaftlichen Profitinteressen des Rhein-Main-Flughafens und stört sich nicht an der ökologischen Katastrophe, die dieser heraufbeschwört.
 

Schlussfolgerung: Eine Realpolitik, welche die Wünsche mächtiger Interessensgruppen als unumstößliche Tatsachen ausgibt, schlägt die Vernunft und verhindert gesellschaftliche Innovationen.
 

Zugegeben: Mein Vertrauen in die Grünen ist beschränkt. Die anfängliche Euphorie hat sich im Verlauf von über 40 Jahren abgenutzt, ist fast zum Erliegen gekommen.
Von Jahresanfang 1980 bis zum Jahresende 1983 war ich an der Gründung dieser Partei in Baden-Württemberg zunächst als Mitglied und später als ehrenamtlicher Geschäftsführer eines Kreisverbands aktiv beteiligt. Die fünf weltanschaulichen Quellen, aus denen sich die Partei damals speiste, waren derart unterschiedlich, sodass sich der neue Zusammenschluss auf den geringsten gemeinsamen Nenner verständigen musste, nämlich auf den Widerstand gegen die Atomenergie. Bei den Gründervätern und -müttern handelte es sich um lokale grün-alternative Bündnisse, die bereits 1974 als Antworten auf den geplanten Bau des Kernkraftwerks Wyhl am Kaiserstuhl entstanden waren. Zu ihnen stießen von der SPD enttäuschte Linke und Linksliberale einschließlich linker SPD-Mitglieder (Letztere zum Teil noch für längere Zeit mit SPD-Parteibuch), wertkonservative Christdemokraten aus dem Kreis um Herbert Gruhl („Grüne Aktion Zukunft“), anthroposophische Strömungen, vor allem aus der bio-dynamischen Landwirtschaft und der Waldorf-Pädagogik, sowie die rechts-ökologische Sammlung AUD (Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher), die sich im April 1980 auflöste und über 90 Prozent ihrer Mitglieder in die neue Partei einbrachte. Die (im umfassenden Sinn) Linken stellten zwar eine starke Minderheit dar, diese war jedoch nicht einflussreich genug, um antikapitalistische Forderungen im Programm zu verankern. Der objektiv nachweisbare Kausalzusammenhang zwischen kapitalistischer Produktionsweise (inklusive Eigentumsverhältnisse sowie soziale Folgen) und der in Kauf genommenen irreversiblen Schädigung der natürlichen Umwelt ist bis heute ein weißer Fleck im Selbstverständnis der Grünen. Selbst die ihnen nahestehende „Fridays for Future“-Bewegung ist in diesem entscheidenden Punkt nicht eindeutig.
 

Die Grünen in Baden-Württemberg verkörpern dieses Erbe wie kaum ein anderer Landesverband. Mit geradezu historischer Notwendigkeit brachte diese Parteigliederung eine Persönlichkeit wie Winfried Kretschmann hervor. Sein politisches Programm ist attraktiv für moderate Konservative und Verfechter eines ökologischen Wandels, die gleichzeitig in die bestehenden Verhältnisse verliebt sind. Und es zieht Menschen mit sozialem Gespür an, die aber weniger an Reformen als an Charity-Wohltätigkeit interessiert sind. In dieser Konstellation braucht es weder eine CDU, die sich aus unreflektiertem Gestern und Vorgestern speist, noch eine SPD, die seit Jahrzehnten nicht wagt, sich zu einer sozialistischen Gesellschaft zu bekennen.
 

In Rheinland-Pfalz hingegen ist die Sozialdemokratin Malu Dreyer der ideale Kompromiss, auf den sich SPD, Grüne und FDP einigen können, wenn sie auf ihre jeweiligen parteipolitischen Visionen verzichten wollen zugunsten eines Pragmatismus, der im Wesentlichen die Fortschreibung nicht gelöster struktureller Probleme bedeutet.
 

Ob den Grünen die Kretschmannsche Strategie auf Bundesebene zur Regierungsmacht oder mindestens zur Teilhabe an dieser verhelfen könnte, sei im Augenblick noch dahingestellt. Denn die Verhältnisse in Baden-Württemberg sind nicht allgemein auf sämtliche Bundesländer übertragbar.
 

Das sich seit über drei Jahrzehnten im Strukturwandel befindliche NRW bietet keinen idealen Nährboden für grüne Kompromisse. Die einst im Land herrschende SPD verliert bislang in den Industriezentren überproportional viele Wähler an die AfD, während die Linke von der sozialen Problematik nicht profitieren kann. Und die CDU unter Armin Laschet verkörpert eine Mixtur aus permanenter Unentschlossenheit und vorschnellen Zugeständnissen. Das kann nur dort erfolgsfähig sein, wo keine gravierenden Entscheidungen notwendig sind. Die Herausforderungen durch Klimaveränderung, Energiewandel, Reformbedarf in Bildung und Verwaltung und die Verschärfung der sozialen Frage durch die Verlierer der Digitalisierung bedürfen jedoch einer Bereitschaft zur Umgestaltung, die alte Modelle in Frage stellt.
Friedrich Merz wäre erst recht mit einer Lösung überfordert gewesen. Aber ein Teil der Partei berauscht sich an diesem Geist von Vorgestern, vor allem an seiner Nassforschheit, und übersieht dabei die gestalterische Armut des Sauerländers.
 

Am blau-braunen Osten könnten sowohl grüne als auch rosa-rote Träume zerplatzen. Und falls die CSU Markus Söder zum gemeinsamen Kanzlerkandidaten der Union krönte, würden sämtliche Karten ohnehin neu gemischt. Mutmaßlich zum Nachteil der SPD.
Die Grünen müssten sich für diesen Fall entscheiden, ob sie mehr an der Machtbeteiligung oder mehr an der ökologischen Veränderung interessiert sind. In Hessen haben sie sich bereits im Jahr 2014 für die Macht entschieden, was intern zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat. Ihre Erfolge bei den Kommunalwahlen sind darum vor allem auf eine inhaltlich und personell ausgeblutete SPD zurückzuführen. Das Beispiel von Frankfurt am Main belegt diese These.
 

Diese SPD wird, Malu Dreyer hin oder her, noch auf unbestimmte Zeit die Agenda-Hypothek abtragen müssen, also an einem existentiellen Glaubwürdigkeitsproblem leiden. Und danach möglicherweise auf der großen politischen Bühne nicht mehr gebraucht werden. Schröders Zäsur war, wie sich immer mehr herausstellt, einer der größten Erfolge des Neoliberalismus. Dass die Grünen unter Joschka Fischer daran ihren Anteil hatten, zählt mit zu den diversen Achillesfersen der Ökos.
 

Die Kommunalwahl in Frankfurt hat einen eindeutigen Gewinner, die Grünen. Sie erhielten 24,7 Prozent der Stimmen, was einen Zuwachs von 9,3 % bedeutet. Und einen Großverlierer, nämlich die SPD. Sie verlor 6,8 Prozent und kam lediglich noch auf 17 % und lag damit auf dem Bundesdurchschnitt. Auf ihre lokalen Galionsfiguren (Planungsdezernent Mike Josef, Verkehrsdezernent Klaus Oesterling, Bildungsdezernentin Sylvia Weber und Kulturdezernentin Ina Hartwig) trifft zu, was auch für alle Schröder-Regierungen galt: Mittelmaß, kein Gespür für notwendiges Gegen- und Umsteuern in gesellschaftlich relevanten Bereichen (z.B. im Wohnungsbereich oder bei der Instandsetzung von Schulen), zu große Nähe zur traditionellen Wirtschaft und mangelhafte Basisnähe. Aus einem solchen Abgrund kommt man nur heraus, wenn man sich selbst, gemeint sind die Verantwortlichen, infrage stellt. Es bestehen Zweifel, ob der dazu notwendige Mut vorhanden ist. Drei Tage nach der Wahl präsentierte sich Mike Josef öffentlichkeitswirksam bei der Grundsteinlegung einer Hochhausanlage, bei der die Zielgruppen seiner Partei im Hinblick auf preiswerten Wohnraum den Kürzeren ziehen werden.
 

Auch das Abschneiden der Linken ruft Fragen und Mutmaßungen hervor. Sie, die selbsternannte Rächerin der Abgehängten, vermochte weder in Baden-Württemberg noch in Rheinland-Pfalz die Stimmen der im Elend Lebenden an sich zu ziehen. In BW sind 5,1 Prozent der Bevölkerung auf Mindestsicherungsleistungen angewiesen, die Linke erreichte gerade mal 3,6 Prozent. In RP beziehen 6,7 Prozent Hartz IV oder vergleichbare Transfers; die Partei gewann 2,5 Prozent der Stimmen.
In Frankfurt verbuchte sie erneut 8 Prozent.
Insgesamt bedeuten die Wahlergebnisse ein Desaster – und das ausgerechnet in einer wichtigen Zielgruppe. Die Ergebnisse lassen zudem darauf schließen, dass die Linke bei vielen Intellektuellen ihren Kredit verspielt hat. Was 2004 mit der „Wahlinitiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG)“ und 2007 mit der Verschmelzung mit der PDS hoffnungsvoll begann, scheint derzeit ausgereizt zu sein.
Bevölkerungsgruppen, die eine Fürsprecherin dringend benötigen, scheinen in der Linken nicht ihren bevorzugten Anwalt zu sehen. Auffällig ist die Sprachlosigkeit und Eindimensionalität bei der Vermittlung politischer Ziele. Sie neigt zunehmend zu Vereinfachungen, die populistisch wirken, möglicherweise sogar so gemeint sind.
Vieles deutet darauf hin, dass die Linke zuallererst ihre internen Probleme lösen muss. Hierzu zählen Charakterfestigkeit und fachliche Qualifikation ihrer Mandatsträger. Die Partei des revolutionären Proletariats bedarf anscheinend einer inneren Revolution.
 

K.P.M.