Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Gendern - eine Zeitbombe der AfD?

Zu einer Kontroverse im Hessischen Landtag

(c) Rat für deutsche Rechtschreibung

Die AfD im Hessischen Landtag sorgt sich um die sprachliche Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie sei die einzige Partei, die sich an die Regeln der deutschen Rechtschreibung halte und das Gendern grundsätzlich ablehne. Grünen und SPD fielen keine überzeugenden Gegenargumente ein, was den Eindruck bestätigte, dass sie einer Mode nachlaufen, ohne sich über deren Sinn bzw. Unsinn klar zu sein. Die CDU hob lediglich hervor, dass es keinen Zwang zum Gendern gäbe. Das bestätigte der Ministerpräsident im pluralistischen Geist Friedrichs des Großen: „Ja, wer gendern möchte, der soll es tun. Aber wer es nicht möchte, dem soll man aber auch die Freiheit geben, es zu lassen.“ Möge also jeder nach seiner persönlichen Façon genderselig werden. Die Vorstellungen von der inhaltlichen und formalen Gleichberechtigung der Geschlechter scheinen in diesem Parlament extrem auseinanderzugehen. Doch welche Rolle spielt die AfD dabei?
 

Die AfD und ihre Sympathisanten versuchen seit längerem, die Deutungshoheit über Persönlichkeiten des Widerstands gegen das NS-Regime zu erringen (z.B. über die Geschwister Scholl oder Dietrich Bonhoeffer). Ja, sie halten es sogar für eine geniale Idee, ihren Widerstand gegen die Demokratie (Alexander Gauland: „Wir werden sie jagen“) mit Anleihen beim Erzfeind zu kaschieren. Aus ähnlichen Gründen versuchen sie auch, die Auseinandersetzung um das Gendern zu ihrem Vorteil zu instrumentalisieren.
 

Tatsächlich zählen sie trotz gegenteiliger Behauptungen zu den eifrigsten Verfechtern einer Revision der deutschen Sprache. Ihre Vorgängerorganisation, die NSDAP, hatte damit bereits begonnen. Im Reichspropagandaministerium des Joseph Goebbels arbeiteten Experten an einem neuen deutschen Wörterbuch. Das zielte einerseits auf die Militarisierung der Alltagssprache; z.B. wurde das funktionale Wort Einsatz zum Synonym für bedingungslose Unterordnung. Etwa zum Einsatz des Lebens für Volk, Vaterland und Führer. Andererseits auf die Biologie, die biologistisch verstanden und zur Rassenlehre mit weitreichendem Einfluss auf die Umgangssprache verfälscht wurde. In diesem Weltbild war der deutsche Mann eindeutig ein Mann und die deutsche Frau unverwechselbar eine Frau. Aus dem unerschöpflichen Arsenal germanischer Runen erhielten die Geschlechter analog zu ihrer Rolle im Staat diverse Symbole im Sinn der Blut- und Boden-Ideologie zugewiesen: Sternchen, Pfeile, Haken, Punkte. Anregungen erhielten die Redakteure dieser Enzyklopädie des Unmenschen u.a. aus den OSTARA-Heften, die der rassistische Priester Jörg Lanz von Liebenfels von 1905 bis 1917 herausgegen hatte. Sie zählten angeblich zur Lieblingslektüre Adolf Hitlers.
Die Rolle der Geschlechter lief im NS-Staat darauf hinaus, dass die Frau faktisch zur Männin wurde, auch wenn man das so nie schrieb oder sagte. De facto waren „die Frau“ oder „das Weib“ Dienerinnen des Mannes. Schließlich wurde ihre legendäre Urahnin Eva aus einer Rippe Adams geformt.
Traditionsbewusste evangelische Theologen nennen ihre Ehefrau oder ständige Mätresse im vertrauten Kreis deswegen gern Rippe.
 

Neue Wortverbindungen wie Leser*in / Leser*innen tragen dem bewusst oder unbewusst Rechnung. Der Mann geht voran, der Frau hängt sich an oder wird angehängt. Das legt den Verdacht nahe, dass das sogenannte Gendern von der AfD erfunden sein könnte – allen Dementis zum Trotz. Denn Feministinnen müssten, wenn sie sich ernst nähmen, eigentlich Leserin*er schreiben. Das würde aber endgültig zu einem nicht mehr vermittelbaren monströsen deutschen Wortschatz samt verkümmerter Grammatik führen.
 

Unlängst schrieb mir eine Kollegin, dass sie es nicht mehr klaglos hinnehmen wolle, zu einer „*in“ degradiert zu werden. Sie verstünde sich nicht als Anhängsel, erst recht nicht als dienstbeflissene Gehilfin des Mannes, schon gar nicht als Adams Rippe. Vor 30 Jahren habe sie sich über Frauen geärgert, die bei einer Eheschließung ihrem Mädchennamen (welcher zumeist der Name eines Mannes war) einen weiteren Mann-Namen hinzufügten. Sie hielt das damals und auch noch heute für eine unangebrachte Sexualisierung des Lebens.
 

Ich habe ihr zugestimmt. Denn nach meiner langen Berufserfahrung im Umgang mit Texten wird Sprache der Gleichbehandlung der Geschlechter nur dann gerecht, wenn sie inhaltlich nichts verschweigt und nichts beschönigt, sich also nicht an Äußerlichem aufhängt. Wenn sie dort abstrahiert, wo es geboten ist (durch Verwendung des generischen Maskulinums), und im Konkreten die direkte Unterscheidung vornimmt (Leser, Leserin). Denn was sich aussagen lässt, muss klar gesagt werden (so Ludwig Wittgenstein). Gegenderte Sprache hingegen reduziert die im gesellschaftlichen Diskurs notwendige Komplexität. Und Vereinfacher erweisen sich in den allermeisten Fällen als Populisten.
 

Im Übrigen empfand ich es als einen sprachhistorischen Fortschritt, dass die „Amtlichen Regeln der deutschen Rechtschreibung“ aus einer jahrelangen internationalen Expertenkonferenz hervorgegangen sind. Nicht Deutschland als größte deutschsprachige Nation bestimmt über die Grundregeln, sondern die Schweiz, Österreich, Liechtenstein, Italien (Bozen und Südtirol) und Länder mit deutschsprachigen Minderheiten (Belgien, Luxemburg) sitzen gleichberechtigt mit am Tisch. Am deutschen Wesen wird die Welt nicht mehr genesen. Zum Ärger der AfD und anderer Ideologen.
 

Das „Kritische Tagebuch“ führt Klaus Philipp Mertens