Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Eine Nation von Schweigern und Feiglingen

Alexej Nawalny appelliert an seine russischen Landsleute, endlich Partei für die bedrohte Ukraine zu ergreifen

Platz in Charkiw, von einer Rakete zerstört © ARD

Der inhaftierte russische Kreml-Kritiker Alexej Nawalny hat zu täglichen Protesten gegen den Einmarsch in die Ukraine aufgerufen. Nawalnys Sprecherin sagte, die Proteste sollten jeden Tag um 19 Uhr und am Wochenende um 14 Uhr stattfinden. In dem Aufruf heißt es wörtlich: „Lassen Sie uns wenigstens nicht zu einer Nation von verängstigten Schweigern werden. Von Feiglingen, die so tun, als würden sie den aggressiven Krieg gegen die Ukraine nicht bemerken, den unser offensichtlich wahnsinniger Zar entfesselt hat.“
 

Im Vernichtungskrieg Putins des Schrecklichen gegen die Ukraine überschlagen sich die Ereignisse. Die Meldungen der Nachrichtenagenturen bestätigen entweder frühere Berichte über Tote, Verletzte und Vertriebene oder korrigieren sie, weil die Ereignisse noch verheerender sind als zunächst wahrgenommen. Hier eine Auswahl vom 2. März 2022:
 

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat den russischen Truppen vorgeworfen, das Land und seine Geschichte zerstören zu wollen. Selenskyj bezog sich in einer Videobotschaft auf einen russischen Angriff nahe der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Dieser Angriff zeige, dass für viele Menschen in Russland Kiew absolut fremd sei, sagte Selenskyj. „Sie wissen gar nichts über unsere Geschichte. Aber sie alle haben den Befehl, unsere Geschichte, unser Land, uns alle auszulöschen.“
Wie begründete Putin der Schreckliche seinen Vernichtungsfeldzug? Er wolle die Ukraine entnazifizieren. Es ist ein seltsames Entnazifizierungsprogramm, das sich gegen einen Präsidenten mit jüdischer Herkunft richtet und in dessen Folge ein ziviler Sendeturm nahe einer Holocaust-Gedenkstätte bombardiert wird.
 

Ich lese weiter in den Agenturmeldungen:
 

Ein hochrangiger westlicher Geheimdienstmitarbeiter schätzt die Zahl getöteter oder gefangen genommener russischer Soldaten auf rund 5.000. Der Beamte, der von mehreren Geheimdiensten informiert wurde, sagte, die ukrainischen Streitkräfte hätten eine erhebliche Anzahl russischer Flugzeuge und Panzer sowie einige Luftabwehrsysteme ausgeschaltet.
5.000 Soldaten haben ihr Leben verloren, weil sie sich von ihrer Staatsführung belügen ließen. Oder grundsätzlich weggehört hätten, wenn es um ihre elementaren Lebensinteressen ging. Und mutmaßlich werden es noch viel mehr, wird noch unendlich viel Blut vergossen. Putin, Iwanow, Medwedew, Schoigu und der gesamten Kreml-Clique ist das gleichgültig. Es muss nur das Blut, die Gesundheit und das Leben anderer sein.

 

In der Ukraine sind seit Beginn des Krieges nach Angaben aus Kiew mindestens 2000 Zivilisten getötet worden. In dieser Zahl seien gestorbene Soldaten des Landes nicht inbegriffen, teilte der ukrainische Rettungsdienst mit. Unter den Toten seien zehn Rettungskräfte.
 

Das ukrainische Verteidigungsministerium ist nach eigenen Angaben bereit, gefangene russische Soldaten an ihre Mütter zu übergeben - wenn diese „in die Ukraine kommen, um sie abzuholen". Das Verteidigungsministerium veröffentlichte Telefonnummern und eine E-Mail-Adresse, über die Informationen über gefangene russische Soldaten abgefragt werden können. An die Mütter der Soldaten gerichtet hieß es: „Sie werden empfangen und nach Kiew gebracht, wo Ihr Sohn an Sie zurückgegeben wird. Anders als die Faschisten (von Kreml-Chef Wladimir Putin) führen wir keinen Krieg gegen Mütter und ihre gefangenen Kinder", schrieb das Verteidigungsministerium. Über eine Hotline des Verteidigungsministeriums können russische Eltern abfragen, ob ihre Söhne zu den von der ukrainischen Armee gefangenen oder getöteten Armeeangehörigen gehören.
Vermutlich handelt es sich um eine reine Propagandaaktion. Aber sie trifft eine empfindliche Stelle in der russischen Bevölkerung. Denn die hat sich von der Regierung in Moskau bislang einreden lassen, dass in der Ukraine überhaupt kein Krieg stattfände. Ja, dass es sich vielmehr um eine begrenzte Aktion zum Schutz russischer Staatsbürger handele. Doch in dem Augenblick, wo Menschen persönlich betroffen sind von bislang eher abstrakt dargestellten Ereignissen, könnte ein Wandel einsetzen. Und ein Bewusstwerdungsprozess beginnen.

 

Derweil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen Russland eine einstweilige Anordnung zum Schutz von Zivilisten in der Ukraine erlassen. Das Straßburger Gericht forderte die Regierung in Moskau auf, militärische Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte wie Wohngebäude, Schulen und Krankenhäuser zu unterlassen. Die Ukraine hatte den Gerichtshof angerufen und russischen Truppen „massive Menschenrechtsverletzungen“ vorgeworfen.
Und Frankreichs Wirtschaftsminister Le Maire sprach von einem „vollständigen wirtschaftlichen und finanziellen Krieg gegen Russland“. Später ließ er mitteilen, der Begriff „Krieg“ sei unangebracht und entspreche nicht der Deeskalationsstrategie. Der frühere russische Präsident Medwedew warnte daraufhin, dass sich Wirtschaftskriege in der Geschichte der Menschheit oft in echte Kriege verwandelt hätten. Das hätte die Kriegspartei in Moskau einkalkulieren sollen.
 

Die Ukraine hat zwischenzeitlich von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) dringende Hilfe für die Sicherheit ihrer Nuklearanlagen angefordert. Das berichtete IAEA-Chef Rafael Grossi bei einer Sondersitzung seiner Behörde in Wien. Er sei im Kontakt mit Kiew und Moskau, um auszuloten, wie die Infrastruktur, der Betrieb und die Mitarbeiter unterstützt werden können. IAEA-Experten werden aber in nächster Zeit eher nicht in die Ukraine reisen. "Zugang zu einem Kriegsgebiet zu bekommen wäre eine extrem heikle Sache", sagte Grossi. Er berichtete auch, dass russische Einheiten nach Angaben aus Moskau das Gebiet um das Atomkraftwerk Saporischschja - das größte ukrainische AKW - unter ihre Kontrolle gebracht hätten. In der Ukraine sind 15 Kernreaktoren in vier Kraftwerken in Betrieb. „Wir möchten sicherstellen, dass keine radioaktiven Stoffe freigesetzt werden, die zusätzliches Leid erzeugen", sagte der Generaldirektor.

 

Die Zahl der in den Nachbarländern der Ukraine angekommenen Kriegsflüchtlinge steigt weiter stark an. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR gab eine erneut gestiegene Zahl von rund 874.000 Menschen an, die das Land verlassen hätten. Eine erste aktualisierte Zahl auf der Website des UNHCR hatte zuvor noch 836.000 Kriegsflüchtlinge ausgewiesen. Am Dienstag hatte UNHCR-Chef Filippo Grandi die Zahl 677.000 genannt.

Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge befindet sich den Angaben zufolge nun in Polen. Rund 454.000 Menschen aus der Ukraine suchten demnach dort Schutz. An zweiter Stelle folgt Ungarn mit rund 116.000 aufgenommenen Flüchtlingen, dann Moldau mit 79.000, die Slowakei mit 67.000 und Rumänien mit 45.000. Rund 70.000 Menschen seien zudem in andere europäische Staaten weitergereist. Knapp fünf Prozent der ukrainischen Kriegsflüchtlinge (43.000) gingen laut UNHCR nach Russland.

 

Der russische Außenminister Sergej Lawrow, einer der Brandstifter in Putins Kabinett, hat den Westen vor den Folgen einer weiteren Eskalation im Ukraine-Konflikt gewarnt. Das klingt so, als ob Russland nicht der Aggressor, sondern schuldlos in einen Konflikt verstrickt wurde. Sollte es zu einem Dritten Weltkrieg kommen, so Lawrow, würden darin Atomwaffen zum Einsatz kommen, was gewaltige Zerstörungen nach sich ziehen würde.“ Ist das als Selbsterkenntnis, Mahnung oder gar als Warnung zu verstehen? Vermutlich muss man davon ausgehen, dass Putin der Schreckliche auch mit dem atomaren Feuer spielt.
 

An der letzten Gesprächsrunde bei ANNE WILL nahm auch der emeritierte Professor Karl Schlögel teil, ein renommierter Osteuropa-Experte. Der wunderte sich über die Naivität hinsichtlich der Sicht auf Putins Russland. Denn er hatte bereits vor sieben Jahren, 2015, in seinem Buch „Entscheidung in Kiew“ angekündigt, was sich jetzt vor den mehr oder weniger offenen Augen der Weltöffentlichkeit ereignet. Man habe Putin zu viel nachgesehen, sei ihm in falschen Punkten entgegengekommen. Längst hätte er sein Buch noch ergänzen müssen um die Attentate auf im westlichen Ausland lebende Kremlkritiker. Ganz zu schweigen vom Giftanschlag auf Alexej Nawalny.
Und Schlögel wunderte sich, dass es angesichts des Einfalls in die Ukraine noch nicht zur einer internationalen militärischen Antwort gekommen sei wie beispielsweise von 1936 bis 1939 in Spanien. Damals hatten sich internationale Freiwilligenbrigaden dem Faschisten Franco in den Weg gestellt und die demokratische Republik unterstützt. Die Brigaden scheiterten zwar an ihren inneren Konflikten, vor allem an denen zwischen Stalinisten und unabhängigen Linken und Sozialdemokraten, darunter auch viele Schriftsteller, beispielsweise Ernest Hemingway, George Orwell oder Arthur Koestler. Und sie waren letztlich auch den gut gerüsteten deutschen Truppen unterlegen, die Franco zur Hilfe eilten. Für diese war der Spanienkrieg letztlich eine Blaupause für den bald danach einsetzenden Zweiten Weltkrieg.
 

Eine internationale Aktion, die nicht auf einem formalen Engagement von EU und NATO gründet, könnte den für die Ukraine zu erwartenden Guerilla-Kampf dort fortsetzen, wo das Unheil seinen Ausgang genommen hat. Nämlich mitten in Moskau. Der vietnamesische Militärführer Võ Nguyên Giáp hatte durch seine mehrstufige Guerillataktik der französischen Kolonialarmee im Jahr 1954 die Niederlage von Dien Bien Phu beigebracht und damit den Krieg in Indochina (zunächst) beendet.
 

"Das kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens