Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Der hilflose Rechtsstaat

Anmerkungen zum Terroranschlag von Halle (Saale)

(c) ARD-Mediathek 2019

In dem Stream, den der Attentäter von Halle quasi als Bekennerschreiben im Internet hinterließ, leugnet er den Holocaust. Damit ist er nicht allein. Denn im Netz präsentiert sich vor aller Augen und Ohren eine gewaltbereite rechtsextremistische Szene, die auf Anonymität kaum Wert legt und offensichtlich keine Angst vor Strafverfolgung hat. Besonders bekannt sind Kreise um die Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck, den mittlerweile verstorbenen Holocaust-Leugner Ernst Zündel oder den Verein „Gedächtnisstätte“ im Landkreis Sömmerda (Thüringen). Ganz zu schweigen von diversen Neonazi-Organisationen.
 

Teile der deutschen Justiz scheinen davon entweder noch nichts gehört oder aus den Dokumenten völlig falsche Schlüsse gezogen zu haben. Glaubt man denn wirklich, dass Leute, die unverhohlen die physische Vernichtung von Andersdenkenden proklamieren und aus eigener Machtvollkommenheit den politischen Mord legalisieren, lediglich geschmacklose Scherze posten? Jeder einzelne der bekannt gewordenen Mordfälle war prinzipiell vorhersehbar und er wäre vermeidbar gewesen. Dazu hätte es keines Überwachungsgeflechts bedurft, das die Grundrechte beschneidet. Sondern lediglich des juristischen Grundsatzes, dass Meinungsfreiheit nichts mit einer vermeintlichen Freiheit zur verbalen Diskriminierung (im Netz und anderswo) zu tun hat. Hätte man die Tausende von Verstößen gemäß § 130 StGB (Volksverhetzung) nicht lediglich als nichtöffentliche Provokation, sondern als Staatsgefährdung geahndet, wäre der blau-braune Sumpf längst ausgetrocknet.
 

Diese Unfähigkeit erinnert an den Umgang mit den Morden der Terrororganisation NSU, speziell durch die Verfassungsschutzbehörden. Der frühere Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, ist mittlerweile Fachanwalt in einer Kölner Kanzlei, die dafür bekannt ist, Mandantschaften von rechten Gruppen zu übernehmen. Es scheint zusammenzuwachsen, was zusammen gehört.
 

Ein Beispiel aus den Niederungen des Alltags: Im September 2017 sandte mir ein in der Rhein-Main-Region bekannter Rechtsradikaler einen Droh- und Hassbrief, einen von mittlerweile ca. 38 innerhalb drei Jahren. Unter dem handschriftlich eingefügten Titel „Holocaust Auschwitz“ befindet sich die Kopie eines jener typischen Artikel, die man in den Publikationen der Neo-Nazis findet. So über die angebliche tatsächliche Zahl der Opfer („nur“ 1,5 Millionen) und die vermeintlichen hauptsächlichen Gründe für deren Tod (Erschießungen, Epidemien wie Typhus). Der anonym auftretende, aber namentlich bekannte Verbreiter dieser Relativierungen und Leugnungen unterstrich seinen Zynismus noch, in dem er seinem Pamphlet die Bemerkung handschriftlich hinzufügte: »OLG FFM 2017. Die Negation des Holoc. in Privatbriefen ist keine strafbare Volksverhetzung, da es nicht Öffentlichkeit ist!«
 

Auf meinen schriftlichen Strafantrag vom 10. September 2017 an die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main wegen des Verdachts der Volksverhetzung (Leugnung der NS-Gewaltverbrechen) habe ich bis heute keine Nachricht erhalten. Weder über die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens noch über die Einstellung eines solchen. In einem parallelen Verfahren, das in keinem Zusammenhang mit der erwähnten Holocaust-Leugnung stand, wurde der derselbe Täter wegen Beleidigung in zwei Fällen im Juni 2018 vom Amtsgericht Frankfurt zu einer Geldstrafe verurteilt (Aktenzeichen 6110 Js 236212/18).
 

In einem anderen Fall lehnte die Staatsanwaltschaft Limburg an der Lahn die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen eines im Internet platzierten Aufrufs zu einem „kleinen Holocaust“ gegen Randalierer beim G20-Gipfel in Hamburg 2017 ab (Aktenzeichen 5 Js 11684/17). Zwar wurde die Formulierung als „sprachliche Entgleisung“ beanstandet, gleichzeitig aber darauf verwiesen, „dass das Bundesverfassungsgericht gerade in seiner jüngeren Rechtsprechung eine deutliche Stärkung der freien Meinungsäußerung vorgenommen“ habe. Hier seien „sowohl Entscheidungen aus dem Bereich des Ehrschutzes (Beleidigung) als auch aus den Bereich der politischen Äußerungen (Volksverhetzung) hervorzuheben.“
 

Exemplarisch erwähnt wurde ein veröffentlichter Text folgenden Wortlauts: „So seltsam es klingen mag, aber seit 1944 ist kein einziger Jude nach Auschwitz verschleppt worden. Und seit die Alliierten keine deutschen Städte mehr bombardieren, werden Synagogen nur noch gebaut und nicht gesprengt.“ Das Bundesverfassungsgericht habe anderslautende Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben, weil es in der Äußerung keine Volksverhetzung nach § 130 StGB erkannte.
 

Denn dessen Aufgabe sei im Wesentlichen der Schutz von Minderheiten vor grober Verunglimpfung, eines Schutzes, der jedoch nicht uneingeschränkt gelte. Wörtlich heißt es in dem Bescheid: „Nicht geschützt ist nach herrschender Meinung zum Beispiel die Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Geschützt sind auch nur Personenmehrheiten im Sinne von Bevölkerungsminderheiten, die als Teile der Bevölkerung Deutschlands hinreichend bestimmt, das heißt abgrenzbar sind. Als nicht hinreichend bestimmt hat die obergerichtliche Rechtsprechung z.B. angesehen: die Fangemeinde eines Fußballvereins, ebenso wenig dieGSG 9. Im politischen Bereich wurde die Abgrenzbarkeit abgelehnt für den Begriff »Linke und Antifa-Brut«.
 

Und weiter: „Auch der Straftatbestand des § 130 Abs. 4, der Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus, liegt nicht vor. Dies ergibt sich schon deutlich aus den Folgesätzen der Veröffentlichung des Beschuldigten in denen er sich deutlich von nationalsozialistischen Gedanken distanziert.“
 

Ja, letzteres hat er formal getan (mutmaßlich, weil ihm klar war, zu was er aufgerufen hat), indem er darauf hinwies, dass in seiner Heimatgemeinde die Nazis nie hätten Fuß fassen können. Obwohl das englische Wort „Holocaust“ auf das Altgriechische „Holócaustos“ (vollständig verbrannt) zurückgeht und die planmäßige Ermordung der europäischen Juden durch den NS-Staat beschreibt, schien es dem Beschuldigten dennoch geeignet als Vorbild für einen staatlich durchzuführenden Racheakt. Schließlich proklamierte er durch dessen Gebrauch faktisch die physische Auslöschung einer politischen Gruppierung, die bis heute, zweieinhalb Jahre nach den Vorfällen, für die Hamburger Justiz immer noch nicht abschließend erfassbar ist.

Und es gibt noch eine weitere Ungleichbehandlung: Was nützen die unverbindlichen Sonntagsreden (nach Attentaten), wenn die Politik das rechtsextremistische Übel nicht an seinen Wurzeln bekämpft? Sei es, dass Diskriminierung und Aufruf zum Hass nicht länger als Meinungsfreiheit durchgehen; sei es, dass rechte Schmierereien, die in manchen Orten mittlerweile zum Straßenbild gehören, konsequent verfolgt werden.

Denn wer Straßen- oder Verkehrsschilder mit NS- und anderen Hassparolen beschmiert, geht derzeit kaum ein Risiko ein, entdeckt und verfolgt zu werden. Doch wer diese verfassungsfeindlichen Symbole beseitigt und von selbsternannten Blockwarten dabei beobachtet wird, handelt sich Anzeigen wegen Sachbeschädigung ein und wird zu Geldstrafen verurteilt.

Als die engagierte Demokratin Irmela Mensah-Schramm im Dezember 2018 in Eisenach den Schriftzug „NS-Zone“ auf einem Straßenschild erblickte, übersprühte sie die Buchstaben „NS“ mit einem Herz. Wegen dieses Vorgangs und drei ähnlichen Fällen hat das Amtsgericht Eisenach sie Anfang Oktober dieses Jahres verurteilt. Jemand hatte die Aktionen fotografiert und der Polizei gemeldet. Die Staatsanwaltschaft ermittelte daraufhin wegen Sachbeschädigung in vier Fällen.

Irmela Mensah-Schramm beseitigt seit mehr als 30 Jahren Hass-Botschaften und Nazi-Symbole, die im öffentlichen Raum aufgemalt oder plakatiert wurden. Dabei ist sie wiederholt mit Polizei und Justiz in Konflikt geraten. Bei einer Demonstration gegen die AfD im Mai 2018 wurde die 73jährige Aktivistin sogar festgenommen. Die Verfahren wurden bisher aber stets eingestellt.

Auch dieses Mal bot der Richter in Eisenach an, gegen Zahlen einer Geldauflage von 500 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung das Verfahren einzustellen. Die Rentnerin, die für ihre Zivilcourage und ihr Engagement unter anderem schon mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, lehnte das ab und wurde zu 300 Euro Geldstrafe verurteilt. Zusätzlich muss sie die Kosten des Verfahrens tragen.

Gegen das Urteil will sie Berufung einlegen. Und sie argumentiert (u.a. gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk): „Ich habe keinen Fehler gemacht". Sachbeschädigung sei das, was diejenigen machten, die die Nazi-Parolen auf Mauern und Schilder sprühten. Sie entferne lediglich die menschenverachtenden Botschaften.
 

Ähnlich negative Erfahrungen mit den Behörden mussten die Brüder Ralf und Reiner Bender in Limburg an der Lahn machen, als sie im Umfeld zweier Schulen Nazi-Parolen von Verkehrsschildern und Mülltonnen abkratzten oder übermalten, weil die alarmierte Stadtverwaltung nicht tätig geworden war. Von März 2013 bis weit in das Jahr 2016 hinein zog sich das Verfahren hin. Es endete mit der Androhung von Zwangsvollstreckung. Letztere konnte nur abgewendet werden, weil eine Bürgerinitiative Geld zur "Schadensregulierung" sammelte.

Die Relativierung, Verharmlosung und Leugnung der NS-Gewalttaten einschließlich der Neubelebung von Begriffen aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ (Sternberger/Storz/Süskind) wird von ihren Verursachern mit dem Ziel betrieben, die Deutungshoheit über die politische Willensbildung dieses Landes zu erlangen. Im dem Maße, wie das bislang Unsägliche in breiten Schichten wieder als unanstößig empfunden wird, sinken die Hemmschwellen und der Terror der Rechten wird salonfähig.
 

Vor diesem Hintergrund bewerte ich sowohl den Mordanschlag in Halle als auch den an Regierungspräsident Walter Lübcke sowie andere Attentate aus ähnlichen Motiven als voraussehbare Folgen einer tiefgreifenden Strukturkrise des Rechtsstaats. Nicht zuletzt jene Politiker, die angesichts der Verbrechen jetzt öffentlich Unfassbarkeit äußern, hätten es in der Hand gehabt, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (GG-Artikel 5) im Kontext von GG-Artikel 1 (Würde des Menschen) eindeutig zu definieren. Und den Straftatbestand der Volksverhetzung nicht von juristischen Spitzfindigkeiten abhängig zu machen und jeden Staatsbürger als betroffen und klageberechtigt zu definieren.
 

Klaus Philipp Mertens