„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. […] Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.“
Diese und ähnliche Sätze aus der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, die Marx im Januar 1844 in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« veröffentlichte, gelten seit über 170 Jahren als Grundsätze linker Religionskritik. Doch aktuell muss man konstatieren, dass sie zumindest in der Auseinandersetzung mit dem fundamentalistischen, nicht reflektierenden Islam an Bedeutung verloren haben. Vor allem in der Partei „Die Linke“ sowie in den schmalen linken Flügeln von SPD und Grünen, wo Religion derzeit sakrosant zu sein scheint.
Statt dessen ist Toleranz angesagt, ohne aber zu definieren, gegenüber welchen Inhalten diese gilt und wo sie zwangsläufig an Grenzen stößt. Anscheinend fürchten die Linken, dass ihre Kritik am Islam mit dem von der AfD geschürten Fremdenhass gleichgesetzt werden könnte. Aber exakt diese Reduktion von Komplexität öffnet dem Populismus Tür und Tor, denn er basiert auf unzulässigen Vereinfachungen. Und deswegen laufen beispielsweise die Appelle von Katja Kipping und Bernd Riexinger Gefahr, als Aufrufe zu uneingeschränkter und nicht differenzierender Toleranz missverstanden zu werden.
Aus der Perspektive sozialistischer Parteien herrschen in sämtlichen Staaten, in denen der orthodoxe Islam direkt oder indirekt Staatsreligion ist, feudalistische Machtstrukturen, deren Ausbeutungsinstrumente vom Neoliberalismus geprägt sind. Nur ein minimaler Teil der jeweiligen Bevölkerung kommt in den Genuss wirtschaftlicher Erfolge. Die übergroße Mehrheit vegetiert auf unterschiedlichen Stufen des Elends, genießt keine demokratischen Freiheiten, ist von Bildung ausgeschlossen, lebt in patriarchalisch geordneten Familien und verweigert u.a. Frauen und Homosexuellen die Menschenrechte.
Falls diese 1,5 Milliarden Menschen ihr Schicksal nicht länger religiös sublimieren und sich ihres Untertanenjochs entledigen würden, besäße der Kapitalismus keine Überlebenschancen. Deswegen stellt der Westen die reaktionäre Praxis des fundamentalistischen Islams nicht infrage, sondern beschränkt sich auf die Verurteilung von extremistischen Gewalttaten. Auch rechtsradikale Parteien wie die AfD üben keine Systemkritik, sondern beurteilen die Religion Mohammeds ausschließlich anhand rassistischer Kriterien. Denn ihr Ziel ist die Wiederherstellung eines kapitalistischen deutschnationalen Ständestaats nach preußischem Vorbild, dessen soziale Wohltaten als Brosamen von den Tischen der Reichen herunterfallen.
Einen ähnlichen Eindruck scheint auch der Journalist Samuel Schirmbeck gewonnen zu haben. Er war ab 1991 für ein Jahrzehnt als Korrespondent der ARD in Algerien tätig. Dort konnte er vielfältige Kontakte zu Linken und zu Reformbewegungen im Islam knüpfen. Diese Gruppen könnten die Anpassung der Linken an einen Schmusekurs gegenüber dem reaktionären Islam nicht verstehen. Diese neuen Erfahrungen, die frühere Erkenntnisse bestätigten, veranlassten ihn dazu, ein Buch zu schreiben. Es trägt den Titel »Gefährliche Toleranz. Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam«.
Eine der größten Errungenschaften der Aufklärung ist die Religionskritik, hält er darin sinngemäß fest und erinnert daran, dass Linke – und mit Linke meint er nicht nur die Partei „Die Linke“, sondern auch Grüne und SPD – vehement die christlichen Kirchen kritisierten, die in Deutschland noch bis vor ein paar Jahrzehnten diktierten, wie die Menschen zu leben hatten. Sie machten sich – besonders seit 1968 – religionskritische Merksätze zu Eigen. So wollten sie Kirche und Religion demontierten.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunkt, der ihn zu seinem Buch befragte, äußerte er: „Die Kritik an Dogmen, das war doch mal, das gehörte sozusagen zum Eingemachten der Linken; überlegen Sie, Ströbele, als der Papst kam, ist er rausgegangen aus dem Bundestag, Christentumskritik gehörte immer bei den Linken und bei den Grünen dazu. Sobald das Wort »Islam« fällt, hört das aber auf.“ Es gäbe keine Kritik am Frauenbild im Islam, am Umgang mit Homosexualität, keine Auseinandersetzung mit muslimischen Parallelgesellschaften oder der Gewaltfrage. Im Gegenteil, die Linken hofierten konservative Islamvertreter. Reaktionäre Islamströmungen könnten sich so in Deutschland immer weiter verfestigen und ausbreiten. „Insgesamt kann man sagen – und das erlebe ich nun seit meiner Rückkehr aus Nordafrika, nach diesen zehn Jahren, und ich reise ja auch immer wieder dorthin, gibt es überhaupt keine wirkliche Auseinandersetzung mit der Frage des Islams. Ich habe das erlebt seit dem 11. September 2001. Seitdem würden Argumente durch zwei Phrasen ersetzt: Die Verbände sagen »islamophob«, wenn man kritische Fragen stellt, und die Grünen und Linken sagen »Rassismus«. Damit ist jede Diskussion gekillt.“
Kritische Muslime in Europa und in islamischen Ländern seien inhaltlich entschieden weiter als die Linken und riskierten – im Gegensatz zum Beispiel zu den 68ern – weit mehr für die Meinungsfreiheit. Schirmbeck erinnert an Seyran Ates, die seit der Gründung der liberalen Moschee unter Polizeischutz steht. Und auch Hamed Abdel-Samad, der aufgrund seiner islamkritischen Bücher Todesdrohungen erhielt, kann ohne Polizeischutz nicht mehr in der Öffentlichkeit. „Also ein Hamed Abdel-Samad, über den habe ich noch nie etwas Gutes gelesen in der taz oder in den linken Zeitungen von der Süddeutschen bis zur ZEIT. Die gesamte Islamkritik, und die besteht ja in Deutschland aus fünf, sechs Leuten, und vor allem die Islamkritik in der muslimischen Welt selbst, die längst alles widerlegt, was hier behauptet wird von der Linken über den Islam, die den Islam viel kritischer sieht, die wird hier nicht wahrgenommen.“
Liberale Muslime sowohl in Europa als auch in den islamischen Ländern seien von den Linken in Europa enttäuscht, so Schirmbeck. Statt als natürliche Verbündete die Kämpferinnen und Kämpfer für Freiheit und Menschenrechte zu unterstützen, lasse die europäische Linke sie im Stich, zitiert Schirmbeck die marokkanische Bloggerin Myriam Ibn Arabi. Sie hat der europäischen Linken eine Rassismus-Obsession attestiert. Die unbewältigte Kolonialvergangenheit bzw. die Nazi-Vergangenheit in Deutschland führe zu einem Schuld-Komplex, der zu falscher Toleranz verleite.
Auch die Ägypterin Mona Eltahawy beklagt den fatalen Mangel an Solidarität der Linken mit Islamkritikern. Und als nach islamistischen Anschlägen in der Folge des 11. Septembers sogar muslimische Zeitungen in Algerien den Zusammenhang zwischen Islam und Islamismus diskutierten, beeilte sich die europäische Linke zu versichern, dass die Gewalt mit dem Islam nichts zu tun habe.
„Also 15 Jahre hat es gedauert, bis Cem Özdemir, den ich übrigens auch sehr, sehr schätze, gesagt hat: Ich kann es nicht mehr hören, wenn man sagt, Islam und Islamismus haben nichts miteinander zu tun. Das hat er 2015 nach den furchtbaren Massakern in Paris gesagt. Aber da ist mir das zum ersten Mal aufgefallen: das sagt endlich mal einer. Aber so lange hat es gedauert. Und er ist eine absolute Ausnahme bei den Grünen, was diese Sachen angeht, und in der ganzen Linken.“
Kritiker halten Schirmbeck entgegen, es seien doch Konservative gewesen, die über Jahrzehnte hinweg Integration verhindert hätten. Schirmbecks Kritik am Islam sei zu pauschal, sei nahe dran an rechten Verschwörungstheorien. Doch Samuel Schirmbeck verweist auf das, was sich nachweisen lässt, nicht auf Mutmaßungen: Linke in Deutschland – auch in Europa – hätten den notwendigen Diskurs über den Islam verweigert und seien daher mitverantwortlich für das Erstarken der Rechten.
Eine solche These provoziert, aber es scheint die Zeit gekommen für solche möglicherweise verwegenen Behauptungen. Schirmbecks Erkenntnisse decken sich übrigens in weiten Teilen mit dem jüngst erschienen Buch von Ahmad Mansour (»Klartext zur Integration«). Es ist beiden Veröffentlichungen zu wünschen, dass sie einen Diskurs geradezu erzwingen, dem allzu lange bewusst ausgewichen wurde.
Klaus Philipp Mertens
Bibliografischer Hinweis:
Samuel Schirmbeck
Gefährliche Toleranz
Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam
172 Seiten. Gebunden
Orell Füssli Verlag
ISBN 978-3-28005687-5
Ladenpreis 20,00 Euro