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Vergeben?

Sprachliche Nachlässigkeit kann zu Relativierungen führen

© Deutschlandfunk

Es war richtig, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier des Warschauer Aufstands aus Anlass des 80. Jahrestags vor Ort gedachte. Insbesondere ist das persönliche Gespräch mit überlebenden Widerstandskämpfern und deren Angehörigen hervorzuheben. Doch warum bittet er um Vergebung?
 

Vergeben könnten lediglich die Opfer, allenfalls deren Familien. Und sie müssten, falls sie es tatsächlich wollten, ihren Peinigern die Mordtaten vergeben. Eine solche Absolution bedeutete die Umkehrung sämtlicher ethischer Werte, sie billigte dem Unrecht eine Verjährungsfrist zu. Dabei verjährt Mord nach deutschem Recht nicht.
 

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bundespräsident Steinmeier das will. Doch er hätte unmissverständlich seine Bitte ausdrücken sollen, dass die direkt Betroffenen und das gesamte polnische Volk den nachgeborenen Deutschen die Verbrechen der vorangegangenen Generationen nicht nachtragen möchten. Nicht nachtragen, ohne jedoch die Schandtaten zu rechtfertigen oder zu relativieren.
 

Die Nachlässigkeit im Umgang mit der deutschen Sprache macht offensichtlich auch vor den höchsten Repräsentanten Deutschlands nicht halt. Möglicherweise beherrschen die Redenschreiber nicht die Feinheiten der Sprache. Und die Minister, Kanzler und Präsidenten nehmen sich nicht die Zeit, die Texte kritisch zu lesen und gegebenenfalls zu korrigieren. Vielleicht ist aber auch das Gefühl für korrekte Sprache auf breiter Ebene verloren gegangen. Selbst bei denen, die beruflich schreiben und reden. Neben den Journalisten sind das offensichtlich auch die Deutschlehrer. Wie anders ist es zu erklären, dass vorgeblich gebildete Frauen sich über die Anhängsel „*in“ und „*innen“ definieren? Für die Stellung der Frauen und deren Abhängigkeit von den Männern erfanden die Nazis die Vokabel „Mütter im Vaterland“.  Völkische Phrasen erleben im Gewand des ideologischen Feminismus eine Neubelebung.
 

„Das Wörterbuch des Unmenschen ist das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben“ schrieben die Journalisten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind in ihrer kritischen Untersuchung der Nazi-Sprache. Die Darstellungen erschienen zwischen 1945 und 1948 in der Zeitschrift „Die Wandlung“; 1957 erschien die erste Buchausgabe.

 

Klaus Philipp Mertens