Vom Geist der Zeit | Die Meinungsseiten

Scheideweg Afghanistan

China und Russland tanzen bald auf dem Pulverfass, von dem der Westen gerade abgestürzt ist

Taliban-Kontrollposten in Kabul © ZDF

Wenn sich Politiker, Militärs, vermeintliche Experten und viele Medien angesichts der Entwicklung in Afghanistan überrascht zeigen, frage ich mich, was in diesen Kreisen überhaupt zur Kenntnis genommen wird.
 

Das Land am Hindukusch mag aus amerikanischer und europäischer Sicht immer schwer durchschaubar gewesen sein. Umso mehr hätte man sich intensiv mit seiner Geschichte und den politischen und religiösen Strömungen beschäftigen müssen, bevor man sich zum militärischen Eingreifen entschied.

Afghanistan war über Jahrzehnte ein Staat, in dem feudalistische Stammesstrukturen, bürgerlich-liberale Reformansätze (bedingt durch die britische Kolonialbesatzung) und soziales Aufbegehren von Tagelöhnern und Kleinbauern aufeinandertrafen. Es erscheint sogar rückblickend als unvorstellbar, dass es dort vor 40 Jahren eine kommunistische Partei gab. Tatsächlich kam es am 27. April 1978 zu einem Staatsstreich, initiiert von der „Kommunistischen Demokratischen Volkspartei Afghanistans“. Ihre Ziele waren die weitgehende Entmachtung der Oberschicht, die Säkularisierung des Landes und der Neuaufbau sozialer Strukturen, was bereits von König Mohammed Zahir Schah ab den 1930er Jahren versucht worden war. Mit dessen Sturz im Jahr 1973 geriet das Land in eine andauernde Instabilität, die vor allem vom Nachbarstaat Pakistan und später von der Islamischen Republik Iran geschürt wurde.
 

Die Kommunistische Partei und ihre Verbündeten verstrickten sich bei der Verfolgung ihrer Pläne jedoch in eine erfolglose Auseinandersetzung mit fundamentalistisch-islamischen Gruppen, vorrangig den Mudschahedin. Als die Lage sich dramatisch verschlechterte, nutzte die Sowjetunion die Gunst der Stunde. Denn sie befürchtete seit längerem das Überschwappen des politischen Islams aus Pakistan und Afghanistan auf ihre eigenen muslimisch geprägten Republiken Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Aserbaidschan. Am 25. Dezember 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Mit ihnen kam Mohammed Nadschibullâh, der ehemalige Führer der sozialistischen Paschtunen, aus dem Moskauer Exil zurück und wurde Chef der Geheimpolizei; 1987 wurde er Präsident Afghanistans.
 

Im fernen Washington zeigte sich man sich ob dieser Ereignisse alarmiert. Geopolitische Konstanten, auf die man zur Absicherung des weltpolitischen Status quo gesetzt hatte, schienen sich aufzulösen. Folglich unterstützte man den Feind seines Feindes, nämlich die Mudschahedin. Auch Pakistan und Saudi-Arabien beteiligten sich finanziell und materiell (Waffenlieferungen) an diesen Maßnahmen. US-Präsident Ronald Reagan empfing sogar Abgesandte der islamistischen Rebellen im Weißen Haus. Es lässt sich heute nicht mehr einschätzen, ob ihm klar gewesen war, dass er Tod und Teufel zu Tisch gebeten hatte.
 

Die sowjetischen Truppen zeigten sich dem Guerilla-Krieg der Mudschahedin nicht gewachsen. Es gelang ihnen nicht, den Feind in offenen Schlachten zu stellen und zu besiegen. Als der unerklärte Krieg immer verlustreicher wurde, verließen die Sowjets 1989 das Land, was einen sämtliche Regionen umfassenden Bürgerkrieg auslöste. In letzterem übernahmen die extrem fundamentalistischen Taliban die Hauptrolle; sie waren eine Abspaltung der Mudschahedin.
 

Mohammed Nadschibullâh konnte sich noch bis 1992 halten, dann wurde er von dem Milizenführer Raschid Dostum gestürzt - was die Rolle und Bedeutung der zahlreichen War-Lords deutlich machte. Es gelang ihm, in das UN-Hauptquartier in Kabul zu fliehen. Dort wurde er 1996 von den Taliban gefangen genommen und ermordet. Seine Leiche wurde in Kabul öffentlich ausgestellt.
 

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verlangten die USA von den Taliban, ihrem langjährigen Verbündeten, sich von Al-Qaida zu distanzieren und dessen Kämpfer, die in Afghanistan Unterschlupf gefunden hatten, auszuliefern. Als die Taliban das ablehnten, begann am 7. Oktober 2001 der „Krieg gegen den Terror“. Da der 11. September von der NATO als Angriff auf einen Bündnispartner bewertet wurde, beteiligten sich daran auch andere Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland. Es gelang, die Taliban zu entmachten und vor allem nach Pakistan zu vertreiben. Von dort aus operierten sie jedoch in kleinen Guerilla-Einheiten weiter und verübten vor allem in den Städten Selbstmordanschläge.
 

Bereits im Dezember 2001 trafen sich die Führer afghanischer Milizen und Stämme sowie Vertreter von Exilgruppen auf der Petersberger Konferenz in Bonn. Sie entwarfen einen Stufenplan zur Demokratisierung des Landes sowie zur Bildung einer provisorischen Regierung, welcher der Stammesführer Hamid Karzai, ein Paschtune, vorstehen sollte. Aus den zahlreichen Dokumenten geht nicht hervor, ob auch der Aufbau zukunftsweisender wirtschaftlicher Infrastrukturen geplant war. Denn ohne moderne Landwirtschaft und Elemente einer industriellen Entwicklung würde sich das Land nicht stabilisieren und erst recht nicht demokratisieren lassen.
 

Sämtliche Vorhaben wären nur dann realisierbar gewesen, wenn die aufständischen Taliban militärisch besiegt worden wären und die Stammesführer eigene Machtinteressen zugunsten einer wirkungsvollen afghanischen Zentralregierung aufgegeben hätten. Stattdessen entwickelte sich die Besetzung durch US- und NATO-Truppen zu einem Krieg der Patrouillen, der nur unzureichend von schlecht ausgerüsteten afghanischen Einheiten unterstützt werden konnte.
 

Der Bundeswehr gelang es zwar, zivile Projekte rund um ihre Quartiere zu sichern. Aber selbst dort kam es zu Anschlägen, bei denen insgesamt 59 Soldaten zu Tode kamen. Das Schlagwort des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck, das auch die deutsche Demokratie am Hindukusch verteidigt würde, erwies sich bald als ein Synonym für Fehleinschätzung, Ohnmacht und militärisches Versagen.
 

Wer in einen Krieg zieht, muss seinen Gegner militärisch besiegen wollen. In den unzugänglichen Gebirgsregionen Afghanistans war allerdings an typische Feldschlachten nicht zu denken. Mithin wäre nur ein pausenloser, sich über Monate hinziehender Luftkrieg nach dem Vorbild des Luftkriegs gegen Nazi-Deutschland infrage gekommen, der auch auf die Grenzregionen in Pakistan auszudehnen gewesen wäre. Stattdessen wurde es ein Kampfeinsatz der halben Sachen, auf den die Gegner mit ihrer typischen Ausweichtaktik antworteten. Den USA wurde dieser Krieg am Ende der Welt zu bedeutungslos, zu opferreich und zu teuer. Der populistische Donald Trump, der für den Wahlkampf dringend Erfolge benötigte, nutzte die Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung und verkündete den Abzug der Truppen. Präsident Biden scheute davor zurück, Repräsentantenhaus und Senat die Folgen eines Rückzugs ohne Strategien klar zu machen. Auch die Kapitulation der afghanischen Streitkräfte war vorhersehbar. Es bedarf nicht nur der Waffen, es bedarf auch überzeugter Kämpfer.
 

Kaum war zum letzten Appell geblasen worden, rückten die Taliban vor und eroberten die größeren Städte, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Mit der Einnahme Kabuls haben sie nunmehr die Macht übernommen. Lediglich der Flughafen ist einstweilen noch eine Exklave von US-Armee und NATO-Truppen. Er dient vorrangig der Evakuierung von Mitarbeitern der Botschaften und Entwicklungsorganisationen.
 

Die afghanischen Helfer der Bundeswehr fürchten um ihr Leben. Ihre Rückführung, die zunächst nur als Ausnahme für wenige geplant war, droht an Bürokratismus und Zuständigkeitsgerangel zu scheitern. Die AfD-Seelen in manchen CDU-Politikern beschwören bereits warnend das angebliche Flüchtlingsdesaster von 2015, das sich nicht wiederholen dürfe, was kompletter Unsinn ist. Somit könnte der deutsche Afghanistaneinsatz endgültig zu einem Fiasko werden. Von Anfang an fehlten ihm realistische politische Ziele und militärisches Durchsetzungsvermögen. Es gibt eben keinen kleinen Krieg im großen Krieg, keinen menschenfreundlichen im menschenverachtenden.
 

Und der Dank des Vaterlands ist einem grundsätzlich nicht sicher – von dem der Politiker an Politiker einmal abgesehen. Zu letzteren Nutznießern dürften die autoritären Regime in Russland und China zählen, die bereits dabei sind, das Kriegsglück der Taliban unter sich aufzuteilen. Schließlich wird das „Islamische Emirat Afghanistan erhebliche Finanzhilfen benötigen; denn die Scharia ist kein Dukatenesel. Die Konflikte, die morgen das Land überziehen, zeichnen sich bereits ab.