Die Sicherheit Israels ist nach Auffassung der Bundesregierung deutsche Staatsräson. Seit dem Terroranschlag der Hamas wird von offizieller deutscher Seite ständig an diesen Grundsatz erinnert. Doch was bedeutet er konkret? Militärische, humanitäre, politische, finanzielle, moralische Hilfe? Unter Staatsräson versteht momentan jeder ein bisschen etwas anderes und von allem ein bisschen etwas.
Im Politiklexikon der „Bundeszentrale für politische Bildung“ wird der Begriff »Staatsraison« so erläutert: „Staatsraisonist ein Prinzip, das die Interessen des Staates über alle anderen (partikularen oder individuellen) Interessen stellt. Nach diesem absolutistischen bzw. obrigkeitsstaatlichen Prinzip ist die Erhaltung der Einheit und das Überleben des Staates ein Wert an sich und rechtfertigt letztlich den Einsatz aller Mittel, unabhängig von Moral oder Gesetz. Das Prinzip der Staatsraison wird heute noch von autoritären Regimen gepflegt.“
Den Bundesbürgern, die Bedenken an dieser politischen Floskel aus der Ära Merkel äußeren, ist zuzustimmen. Auch wenn die ursprüngliche Bedeutung vermutlich nicht gemeint ist, entwertet dieser nichtssagende Allgemeinplatz die besondere Verantwortung der Bundesrepublik für Juden und den Staat Israel. Weder wird die Aussage von vornherein in einen historischen Kontext gestellt, noch wird die daraus abzuleitende ethische und politische Folgerung klar begründet. So wird nicht erwähnt, dass der Massenmord des NS-Staats an sechs Millionen europäischer Juden der Bundesrepublik Deutschland für alle Zeiten eine besondere Pflicht auferlegt. Diese schließt die Existenz von Antisemitismus und nationalsozialistischer Ideologie per se aus. Zusätzlich erwächst daraus eine geopolitische Verpflichtung, nämlich ein Bündnis mit dem Staat Israel, soweit dieser auf rechtsstaatlichen Prinzipien fußt – wovon man trotz der Begehrlichkeiten von Ministerpräsident Netanjahu ausgehen kann. Die Gründung eines jüdischen Staats auf historischem Boden, also auf dem Territorium des britischen Mandatsgebiets, war nach der Shoah unausweichlich. Der von den UN ebenfalls vorgesehene Staat Palästina wurde von den arabischen Nachbarn hingegen leichtfertig verspielt.
Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz entwarf, war von Erfahrungen aus der jüngeren deutschen Geschichte geleitet und fasste diese in normative Grundsätze und Vorschriften. Das wird insbesondere an Artikel 139 klar. Er lautet: »Die zur "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.« Diese auf alliierten Rechtsvorbehalten basierende Vorschriften aus der Besatzungszeit seien mittlerweile obsolet, meinte der Verfassungsrechtler und CDU-Politiker Rupert Scholz (Mitherausgeber von "Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum Grundgesetz“). Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten, dass der Artikel 139 vielmehr ein leitendes Prolegomenon zur deutschen Verfassung darstellt.
Doch leider sieht die deutsche Verfassungswirklichkeit anders aus. Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs, der Volksverhetzung, insbesondere Antisemitismus und Rassismus, verfolgt, ist auch nach den Neufassungen von 2005, 2011, 2015 und 2022 unvollendet geblieben.
Beispielsweise wurde ein Geschäftsmann aus Limburg (Lahn) nicht bestraft, als er im Juli 2017 für die Teilnehmer des „Schwarzen Blocks“, die gegen den G20-Gipfel in Hamburg gewaltsam demonstrierten, einen „kleinen Holocaust“ forderte (also die systematische Ermordung durch den Staat). Sowohl die Limburger Staatsanwaltschaft als auch die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft sahen keine Veranlassung, wegen Volksverhetzung zu ermitteln. Die „Nassauische Neue Presse“ hatte wegen mehrerer Strafanträge den leitenden Oberstaatsanwalt in Limburg interviewt:
Wer dem sogenannten „Schwarzen Block“ einen „kleinen Holocaust“ wünscht, begeht keine Volksverhetzung. Sie haben das so entschieden, Herr Oberstaatsanwalt. Warum?
Staatsanwalt: Der Paragraph 130 im Strafgesetzbuch, der sich mit Volksverhetzung beschäftigt, ist in seiner Auslegung nicht ganz einfach. Es gilt dabei ständig abzuwägen, ob eine umstrittene Äußerung noch durch das Recht auf freie Meinungsäußerung abgedeckt ist – oder eben nicht. Dieser Paragraph, der in dem von Ihnen angesprochenen Fall angewendet wird, beschäftigt sich im Wesentlichen mit Bevölkerungsminderheiten in Deutschland. Dieser Personenkreis muss abgrenzbar sein, zum Beispiel „die Türken“ oder „die Flüchtlinge“. Es gibt zahlreiche Urteile dazu. Als nicht abgrenzbare Gruppen wurden von den Gerichten zum Beispiel „die Fangemeinde“ des FC Schalke 04 oder „Linke und Antifa-Brut“ angesehen. Sie können ja jederzeit entscheiden, nicht mehr Fan dieses oder eines anderen Klubs zu sein. Das gilt auch für Mitglieder des „Schwarzen Blocks“, die sich jederzeit davon distanzieren können. Darum ist das keine Volksverhetzung. Ich habe es deshalb abgelehnt zu ermitteln.“
Vor dem Hintergrund solcher Äußerungen darf man sich über einen zunehmenden Antisemitismus nicht wundern. Hierzu zähle ich auch denjenigen von arabischen Zuwanderern. Wer auf deutschen Straßen der Hamas applaudiert, plädiert für die Vernichtung Israels. Sämtliche Bundesregierungen hätten dieser Entwicklung längst einen juristischen Riegel vorschieben können. Das wäre zudem ein Beitrag zur internationalen Ächtung von Antisemitismus und Rassismus gewesen. Anscheinend übersteigt die intellektuelle Transferleistung, die Politiker dafür zu bringen hätten, deren geistige Möglichkeiten.
Klaus Philipp Mertens