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Alea iacta est - Der Würfel ist gefallen

Plädoyer für ein Moratorium

Zerstörtes Wohngebiet in der Nähe von Kiew © ARD

Wir haben keine Wahl und wir haben keine Zeit. Mit dem Massaker von Butscha ist der Würfel endgültig gefallen. Und damit die einzig mögliche Entscheidung. Die demokratischen Staaten des Westens müssen den sprichwörtlichen Rubikon überschreiten: Kein Gas und kein Öl aus Russland! Sofort Kampfflugzeuge, Raketen und Panzer für die Ukraine! In spätestens sechs Wochen muss der Krieg mit der Kapitulation des Aggressors enden.
 

Als Wladimir Putin seinen widerrechtlichen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar begann, drohte er den westlichen Ländern, insbesondere den NATO-Staaten, Fürchterliches an, falls diese sich einmischen sollten. Unsere Politiker haben die Drohung heruntergeschluckt, haben sich allenfalls dabei etwas geschüttelt. Und vermutlich an die intensiven Handelsbeziehungen gedacht, die nicht gefährdet werden sollten. Insbesondere den Bezug preiswerten Gases galt es sicherzustellen.
 

Doch drei Tage danach, am 27. Februar, einem Sonntag, sprach Bundeskanzler Olaf Scholz unter dem Druck der öffentlichen Meinung im Bundestag und kündigte eine Zeitenwende an. Neben einschneidenden wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland avisierte er Waffenlieferungen an die Ukraine und deutlich höhere Ausgaben für die eigene Landesverteidigung. Am Einkauf von Erdgas, Erdöl und Mineralien aus Russland sollte sich zumindest einstweilen nichts ändern. Die deutsche Wirtschaft, die sich mit alternativen Energien schwertut, sollte geschont werden. Selbst die Klimaveränderung mit ihren absehbaren Folgen auch für die ökonomischen Strukturen führte in den zurückliegenden Jahren nur dann zu einer Neubesinnung, wenn Aussicht auf lukrative Geschäfte bestand. Windräder und Solaranlagen gehören zwar mittlerweile zu den akzeptierten Energieträgern, aber sie kämpfen dennoch gegen unberechtigte Skepsis an.
 

Vor diesem Hintergrund ist es höchste Zeit, sich an eine technische Erfindung zu erinnern, die bereits vor über 70 Jahren zu neuen Hoffnungen bezüglich umweltverträglicher Energieproduktion und Energieverwendung berechtigte. Ich meine die Brennstoffzelle, die mit Wasserstoff betrieben wird. Der Physiker Eduard Justi hatte 1950 die bereits 1838 (!) begonnenen internationalen Forschungen durch eine eigene bahnbrechende Erfindung abgeschlossen und ein überzeugendes Ergebnis präsentiert, den ersten mit Wasserstoff betriebenen Antrieb. 1956 war er faktisch serienreif. Es waren die Multis der Ölindustrie, die ihre Interessen bedroht sahen und vor allem die Automobilindustrie zur Zurückhaltung veranlassten. Die Investitionen zur Erschließung neuer und ertragreicher Erdölvorkommen liefen zu dieser Zeit einem neuen Höhepunkt entgegen und hatten sich noch längst nicht amortisiert. Ja, sie versprachen sogar unverhältnismäßig hohe Renditen in den kommenden Jahrzehnten.
 

Wer den richtigen Zeitpunkt zum Systemwechsel versäumt, den bestrafen neue Realitäten, die sich häufig sehr schnell einstellen. Deswegen sind nachhaltig erzeugter Wasserstoff sowie Wind- und Solarenergie die Ressourcen der Zukunft. Unter dem Eindruck eines Gaslieferstopps im Zuge des Ukraine-Kriegs, egal von welcher Seite veranlasst, könnte sich der überfällige Bewusstseinswandel quasi von heute auf morgen einstellen. Zweifellos würde ein Gasstopp die produzierende Wirtschaft treffen. Zumindest dann, wenn er länger als wenige Monate andauerte. Deswegen ist keine Zeit zu verlieren.
 

Aber aktuell steht noch sehr viel mehr auf dem Spiel. Nämlich das Leben der Menschen in der Ukraine. Die zerbombten und zerschossenen Wohnhäuser in den Städten der Ostukraine und in der Region um Kiew dokumentieren, dass dieser Krieg auch gegen die Zivilbevölkerung geführt wird. Und darum muss ein Moratorium erwogen und unverzüglich umgesetzt werden.
 

Stoppen wir den Gas- und Ölimport aus Russland so lange, bis das Putin-Regime besiegt ist. Falls es gelingt, die notwendigen Waffen den ukrainischen Verteidigern zur Verfügung zu stellen, könnte das in wenigen Wochen geschafft sein. Notfalls müssen NATO-Staaten dazu bereit sein, komplexe Waffensysteme samt Besatzungen an die Ukraine auszuleihen. Die russische Seite ist an echten Verhandlungen nicht interessiert, sie versucht, Zeit zu gewinnen. Zeit für Truppenverschiebungen, für die Beschaffung neuer Waffen, für das Anwerben von ausländischen Söldnern. Aus den Vernichtungskriegen, die Putin bislang geführt hat, etwa in Tschetschenien (Grosny) oder in Syrien (Aleppo) , lässt sich diese Strategie ableiten.
 

Auch das Massaker, das sich jetzt in Butscha offenbart hat, ist kein singuläres Ereignis. Ramsan Kadyrows Killerkommandos, ausländische Söldner, aber auch auf Brutalität dressierte Wehrpflichtige der russischen Armee sind gnadenlos gegenüber der Zivilbevölkerung. Diese Kriegsverbrechen sind Teil eines in Kauf genommenen Genozids. Damit muss es ein Ende haben.
 

Was sich in der Ukraine ereignet, ist ein Krieg der Systeme. Mit dem russischen System ist kein Ausgleich möglich, kann kein Friedensvertrag abgeschlossen werden, der diesen Namen verdient. Und Putin und seine Kamarilla scheiden als Verhandlungspartner aus. US-Präsident Joe Biden hat das richtig erkannt.

Klaus Philipp Mertens