Das kritische Tagebuch

Vor dem Untergang

Lafontaine und Wagenknecht zündeln an der LINKEN

Kommunizierende Röhren © MRG

Covid-19 erweist sich als janusköpfig. Das Virus bedroht das Leben der Menschen und es entlarvt die Lebenslügen einer Gesellschaft.
 

Zu letzteren zählen die bewusst in Kauf genommenen Defizite der Politik und die populistische Schönfärberei, mit der diese kaschiert werden. Eigentlich erwartet man die übliche Umdeutung aller Werte von den hinreichend bekannten Lügnern, nämlich den PR-Schreiberlingen des Kapitalismus in BILD und WELT. Doch Corona scheint die Karten neu gemischt zu haben. Denn die perfide anmutende Verharmlosung der Seuche wird auch von jenen betrieben, deren objektives Interesse eigentlich die Bekämpfung der Pandemie sein müsste. Und damit meine ich nicht jene Gruppen, die in ideologischer und psychotischer Verkennung der Realitäten den Tod bejubeln (AfD, Pegida, Querdenken). Nein, ich rede von Politikern, die offensichtlich an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen sind, aber das nicht bemerken.
 

Zu ihnen gehört Oskar Lafontaine, einst Vertreter jener sozialdemokratischen Minderheit, die zu einer umfassenden Analyse der Gesellschaft und neuen Ansätzen fähig war. Er hat aus seinen Erkenntnissen auch persönliche Schlüsse gezogen, die SPD verlassen, die WASG mitgegründet und schließlich PDS und WASG zur LINKEN zusammengeführt. Dabei war er sehr erfolgreich, nicht nur in seiner saarländischen Heimat.
 

Doch mittlerweile spricht vieles dafür, dass er bei der Propagierung linker Ziele den primitiven Populismus der Rechtsradikalen kopiert und dabei die Trennungslinie zwischen gemeinverständlich und dümmlich bewusst oder fahrlässig überschritten hat. Manche seiner Äußerungen aus den letzten vier, fünf Jahren bewegten sich dicht am Blut-und-Boden-Kult der AfD.
Jetzt hat er den Kurs der Bundesregierung in der Coronavirus-Pandemie scharf kritisiert und in diesem Zusammenhang den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach persönlich angegriffen. Dieser zähle „an vorderster Stelle“ zu den „Covid-Heulbojen“, welche die Delta-Variante benutzten, um „erneut zu warnen und Schreckensszenarien in die Welt zu setzen“. Er wirft Lauterbach und anderen Virologen vor, „Arm in Arm mit der Pharmaindustrie den Teufel an die Wand zu malen, um möglichst viele Leute mit den Impfstoffen mit ,bedingter Marktzulassung‘ zu impfen und den nächsten Lockdown vorzubereiten“. Dabei verlören die „Experten“ allmählich ihre Glaubwürdigkeit, so Lafontaine. Und als ob es mit diesem unqualifizierten Urteil nicht schon genug wäre, versteigt er sich auch noch zu Diffamierungen: „Das Herumreiten auf Inzidenzen, ohne die Anzahl der durchgeführten Tests anzugeben, war, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, schon immer eine Scharlatanerie“. Ebenso entpuppten sich die Warnungen vor überfüllten Intensivstationen „bei näherem Hinsehen als interessengeleitete Lügen“. Dies habe auch der Bundesrechnungshof festgestellt. „Und selbst die Statistik der Corona-Toten und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen geraten ins Zwielicht“, so Lafontaine weiter. Stattdessen lobt er Kinderärzte und die Mitglieder der Ständigen Impfkommission, weil diese sich „bisher standhaft weigern“, Impfungen von Kindern zu empfehlen, „obwohl die Pharma-Lobby mit ihren Handlangern mächtig Druck macht“. Und er verschafft Impfgegnern und Querdenkern eine Steilvorlage mit der Äußerung: „Der Lockdown hat bei den Kindern mehr Schaden angerichtet und ihnen mehr Leid zugefügt, als es eine Infektion mit Covid je könnte.“ Sein Fazit aus den eigenen Vorurteilen lautet denn auch: „Das Schimpfwort Covidioten fällt mehr und mehr auf diejenigen zurück, die jede Gelegenheit ergreifen, um wichtigtuerisch Warnungen in die Welt zu setzen und mit wissenschaftlich nicht abgesicherten Behauptungen die Leute verrückt zu machen.“
 

Bezeichnenderweise nutzte Lafontaine für seine „Enthüllungen“ das Hardcore-Forum „Facebook“. Dort ist ihm der Beifall aller Abgehängten sicher, denn AfD, Querdenker, Identitäre lagern auf derselben Welle in unmittelbarer Nachbarschaft. Es ist zu vermuten, dass der Funke überspringt, weg von den Linken, hin zu den Faschisten, die sich ins Fäustchen lachen. Dass sich die Führung der Linken nicht grundsätzlich von Facebook, Instagram und WhatsApp fernhält und dadurch politische Auseinandersetzungen am falschen Platz nicht von vornherein ausschließt, offenbart die zumindest partielle Einfältigkeit und Politikunfähigkeit von Vorstandsmitgliedern aller Ebenen. Das ähnliche Verhalten der Mitbewerber ist jedenfalls kein Argument für die Nutzung halbseidener Foren. Auch deren Auftritte sind überwiegend nur Verschiebebahnhöfe zum rechten Rand. Man kann, drastisch formuliert, in einem Puff nur Werbung für vergleichbare Dienstleistungen machen, für nichts anderes.
 

In welchem Ausmaß Politiker der LINKEN an der eigenen Partei zündeln, zeigte sich auch beim Auftritt von Sahra Wagenknecht bei „Markus Lanz“ am 12. Juli. Eingespielte Filmbeiträge über Jubelszenen aus England zum bevorstehenden Ende der Corona-Kontaktbeschränkungen kommentierte die einstige Vorsitzende der Bundestagsfraktion mit den Worten: "Irgendwann muss man auch Maßnahmen aufheben." Ihre Mitdiskutantinnen (die Virologin Helga Rübsamen-Schaeff, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, und die Journalistin Anja Maier) waren anderer Meinung. Angesichts der Delta-Variante sei Vorsicht geboten, unüberlegte Öffnungen könnten kaum abschätzbare Folgen haben. Da Sahra Wagenknecht die Ehefrau von Oskar Lafontaine ist, konfrontierten Lanz und insbesondere Anja Maier sie mit dessen Beschimpfung von Karl Lauterbach.

 

Auf die Frage, wo denn die Expertise herkomme, auf die Lafontaine sich bezog, konterte Wagenknecht: „Man muss kein Virologe sein, um wahrzunehmen, dass Angst machende Prognosen nicht eingetreten sind." Auch ihrer Meinung nach sei die dritte Welle weniger schlimm gewesen als befürchtet. Als Alena Buyx in diesem Zusammenhang auf das "Präventions-Paradox" hinwies, also das Phänomen, dass der Erfolg von Maßnahmen im Nachhinein als Beleg für deren Unnötigkeit gedeutet wird, vermochte Wagenknecht darauf nicht einzugehen. Umso mehr schlug sie auf die Propaganda-Pauke: "Natürlich ist das ein Riesengeschäft", es wirkten "mächtige Lobbys", und so zu tun, als handle die Pharmaindustrie aus "altruistischen Motiven", sei absurd. Nicht von ungefähr würden jetzt aus deren Kreisen schon Forderungen nach einer dritten Impfung laut.
 

Zwar räumte Wagenknecht ein, dass Karl Lauterbach „kein Lobbyist" sei und nicht für seine Warnungen bezahlt werde. Ansonsten blieb sie jedoch bei ihrer Linie und der ihres Ehemanns: „Lauterbachs Vorhersagen waren immer übertrieben", er habe „immer deutlich überzogen" und „man sollte Angst nicht schüren".
 

Wie nicht anders zu erwarten, kam auch ihr Buch "Die Selbstgerechten" zur Sprache. Anja Maier warf Sahra Wagenknecht vor, sie bediene sich bei ihrer Abrechnung mit den von ihr so benannten „Lifestyle-Linken" diverser Klischees und zeige sich ihrerseits „dünkelhaft". Ich persönlich war erinnert an die Auseinandersetzung in den 1960er Jahren zwischen protestierenden Studenten und Vertretern des gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Establishments. Damals wurde der Hass der Arbeitnehmer auf die kritische Intelligenz geradezu gezüchtet – unter aktiver Teilnahme der Springer-Presse.
 

Doch die prominente Linke blieb bei ihrer Auffassung, dass "linksliberale Überheblichkeit rechte Terraingewinne nährt" und versuchte damit ihre Hypothese zu untermauern, dass die linken Parteien deswegen immer weniger von Nichtakademikern und Geringverdienern gewählt würden. Das ist zwar eine Tatsache, doch deren Ursache liegt vor allem darin, dass die LINKE im Dumpfbacken-Milieu unterwegs ist (z.B. bei Facebook) und dadurch einen großen Teil ihrer einstigen linksintellektuellen Wählerschaft verschreckt. Bei einer ihrer Hauptzielgruppen hingegen, den Geringverdienern, nährt sie Vorurteile und eröffnet kaum Perspektiven auf bessere Lebensverhältnisse. Stattdessen schlichte bis primitive Sprüche á la AfD - wodurch sie diese Partei salonfähig und wählbar macht, zum Nachteil der LINKEN.
 

Während ich diesen Artikel schreibe, erreichen mich weitere Katastrophenmeldungen vom Niederrhein, von der Aar und aus dem nördlichen Sauerland, wo der Sturzregen der letzten Tage Landschaften unter Wasser setzt. Jetzt wäre doch die Gelegenheit, auf die Klimaveränderung und ihre verheerenden gesundheitlichen und sozialen Folgen hinzuweisen. Und dabei die Verlogenheiten von Klima-Leugnern wie der AfD anzuprangern und sich selbst als echte Alternative zu allen Kleinmütigen und Verharmlosern anzubieten. Doch ich höre und lese nichts.

"Das kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens