Das kritische Tagebuch

Nichts als Frühvergreiste, Untote und Naivlinge?

Die Bundestagswahl als ein Protokoll der herrschenden Verhältnisse

Die vier von der Macht-Tankstelle © hr

Seit der Bekanntgabe des vorläufigen amtlichen Endergebnisses der Bundestagswahl geht mir Franz Josef Degenhardts Lied „Adieu, Kumpanen, ich zieh‘ in ein andres Land“ nicht mehr aus dem Kopf. Denn ausgerechnet eine Partei, deren Namenskürzel ich mit „frivol, dreist, plebsig“ übersetze, entscheidet aller Voraussicht nach über den künftigen Bundeskanzler und dessen Regierung.
 

Dieser Wahlverein der organisierten Steuervermeidung und der Selbstbedienungsmentalität an öffentlichem Eigentum erscheint sogar einem nennenswerten Teil der Erstwähler als attraktiv. Anscheinend schlägt jetzt die Stunde der hedonistischen Frühvergreisten, deren Zukunftsvisionen sich in Rufen nach Digitalisierung und Freiheit erschöpfen. Beide Forderungen können nur im Kontext der Fragen nach den Vorteilen für die einen und den Lasten für die anderen erörtert und umgesetzt werden. Doch diese werden erst gar nicht gestellt. Man bleibt in diesen Kreisen so oberflächlich wie Christian Lindner, der Schwafeldioxid-Demagoge einer Freiheit ohne Verantwortung.
 

Der Sturm der Naivität, der durch das Land bläst, macht auch vor den Grünen nicht halt. Denn die Klimakrise, die sie zu Recht als das Menetekel der Gegenwart an die Wand malen, ist die bislang schwerwiegendste Krise des Kapitalismus. Doch diese klare Tatsache übersteigt anscheinend die Erkenntnisfähigkeit von Annalena Baerbock und Robert Habeck samt deren Anhang. Die grüne Führung plädiert hingegen für einen Schmusekurs mit den Wirtschaftsmonopolen. Man darf das Klima aber nicht dem Markt überlassen, denn der hat die Katastrophe ausgelöst, weil er Mensch und Natur als Verfügungsmasse definiert. Folglich verbietet sich jeder Flirt mit den Marktradikalen von der f-d-p. Das peinliche Foto, das über das Schmierlappenportal „Instagram“ verbreitet wurde, entlarvt die sich anbahnende geistig-politische Katastrophe.
 

Die „Fridays for Future“-Demonstranten, deren Anliegen ich teile, sollten sich überlegen, ob die Grünen der richtige Bündnispartner sind. Die Erfahrungen mit dieser Partei in Hessen und Baden-Württemberg zeigen, dass sie schnell dazu bereit ist, Moral gegen persönliche Karrieren auszutauschen.
 

Es ist bedauerlich, dass die LINKE ihre Rolle als mitgestaltendes Korrektiv nicht auszuspielen vermochte. Ihre programmatischen Aussagen entsprachen weitgehend dem, was notwendigerweise politisch zu tun und zu lassen ist. Aber die Partei hat wesentliche Teile ihres Publikums nicht erreicht, vor allem nicht die Nachdenklichen (die schließlich zu SPD und Grünen übergelaufen sind). Denn am digitalen Stammtisch von Facebook & Co., der gegen alle Vernunft als Kommunikationszentrum diente, dominieren die Primitivlinge der AfD. Und kam die LINKE einmal in den seriösen Medien vor, dann waren es Schlagzeilen über eine Nähe zu Impfverweigerern und über die Stimmenthaltung bei der Evakuierung aus Afghanistan. Damit kann man nicht überzeugen und kein Vertrauen gewinnen. Somit wurde es eine übermütig verschuldete Niederlage.
 

„Ich würg' schon lang an diesen brei'gen Sonntagssprüchen, und diesen Führungskräfteschweiß kann ich nicht länger riechen“ singt Degenhardt im Hintergrund und beschreibt treffend meinen Zustand. Wenn sich der Schweiß des elitären Nichtstuns mit dem Odeur zurückgekehrter Untoter wie Friedrich Merz (CDU) mischt, wird das politische Klima endgültig unerträglich. Ich kann nur an die Einsichtigen unter den Konservativen appellieren: Lest die Bibel, insbesondere das Buch Kohelet. Dort heißt es in Kapitel 3, Vers 1: „Ein jegliches hat seine Zeit“. Nehmt das bitte ernst und haltet euch daran, zumindest für vier Jahre.
 

Bleibt noch die SPD. Es gelang ihr, stärkste Fraktion im Bundestag zu werden, wenn auch mit einem denkbar geringen Vorsprung vor CDU/CSU. Ihr bestes Argument war Armin Laschet und dessen Chaotentruppe. Darunter verschwanden nicht ausdiskutierte Ziele wie soziale Gerechtigkeit jenseits von Transferleistungen, bezahlbare Wohnungen zu Lasten von Wohnungseigentum und kommerziellen Wohnungsgesellschaften, Klimaschutz als Infragestellung des Kapitalismus, Gesundheit als staatliche Daseinsvorsorge, Bürgerversicherung, Rentenversicherungspflicht für alle, Bildung und Kultur als Wesensäußerungen einer aufgeklärten und säkularen Gesellschaft. Die Liste ist noch länger. Die Sozialdemokraten werden ohnehin nur wenig davon umsetzen können, wenn sie es denn überhaupt wollen. Und es ist zudem noch lange nicht ausgemacht, ob es eine Regierung unter Führung der SPD geben wird. Es bedarf nur einiger Al Wazire und Kretschmänner, angeleitet von einer Schaar Kubickis und Wissings, um eine schwarz-grün-gelbe Republik des Mittelmaßes ausrufen zu können. Der mutmaßlich letzten deutschen Republik vor dem Ausbruch der Hölle.
 

Degenhardts Gesang wird wieder lauter: „Und dass die Händler nicht den letzten Baum verkaufen, / Kumpanen, darauf wollen wir noch einen saufen. / Adieu, Kumpanen, ich zieh' in ein andres Land.“ Oder soll ich doch bleiben und das andere Land hier mit aufbauen?

 

"Das kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens