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Archiv "Themenwochen"

88. PRO LESEN-Themenwoche Januar 2020

"Ich habe eine Mordswut"

Der literarische Außenseiter Jörg Fauser

(c) Fauser Archiv

Jörg Fauser, der am 16. Juli 1944 in Bad Schwalbach/Taunus geboren wurde und am 17. Juli 1987 auf der Autobahn bei München als Fußgänger tödlich verunglückte, veröffentlichte bereits als 15/16-Jähriger journalistische Beiträge in der „Frankfurter Neuen Presse“ und Rezensionen in der Politik- und Kulturzeitschrift „Frankfurter Hefte“. Von 1968 bis 1974 lebte Fauser überwiegend in Berlin, aber auch in Frankfurt und in Göttingen und meldet sich in alternativen Zeitschriften mit Kolumnen zu Wort. Danach verfasst er Reiseberichte aus der Türkei, aus Marokko und den USA. Es folgen Gedichtbände (zusammengefasst in der Ausgabe „Ich habe die großen Städte gesehen“), mehrere Erzählungen und die Zusammenarbeit mit dem Musiker Achim Reichel als Texter (Album „Blues in Blond“). Die Romane „Rohstoff“, „Schneemann“ und „Schlangenmaul“ erscheinen in den 1980er Jahren sein, der Roman „Die Tournee“ bleibt Fragment.

 

Nach dem fachlichen Urteil des Satirikers Wiglaf Droste war Jörg Fauser ein „Außenseiter unter Außenseitern“. Droste, der selbst für seine provozierenden Reden und Texte berüchtigt war, konnte diesen „Bruder im Geiste“ vermutlich besonders genau einschätzen. Für die Literaturkritikerin Ina Hartwig, heute Kulturdezernentin in Frankfurt am Main, war er vor allem ein empfindsamer Dichter, der wegen seiner Motive, vor allem der harten Kerle am Rande der Gesellschaft, verkannt worden sei. Die posthum (1993) erschienene Sammlung von Briefen an seine Eltern ist mit „Ich habe eine Mordswut“ überschrieben, was die typische Seelenlage des Autors treffen dürfte.

 

In seinen ersten Berliner Jahren (1968 - 1974) liefert ihm die Potsdamer Straße den Rohstoff für seine Romane und Erzählungen. Fauser wird zu einem Bordsteinliteraten, der sich mit Drogen, Drogenhandel, gesellschaftlichem Muff und den Abgründen des Straßenstrichs gut auskennt. „Rohstoff“ heißt denn auch der 1984 erscheinende Roman. Damals ist er 40 Jahre alt. Drei Jahre später, in der Nacht nach seinem 43. Geburtstag, stirbt er auf der Autobahn bei München-Bogenhausen. Mit 2,6 Promille Alkohol im Blut wird er als Fußgänger vor einen LKW überfahren. Dieses Schicksal teilt er mit seinem Schriftstellerkollegen Rolf Dieter Brinkmann, dem er in Abneigung verbunden ist. Obwohl sich beide in der Verachtung der bestehenden gesellschaftlichen Zustände einig sind und häufig eine ähnlich aggressiven Ton anschlagen:
 

„Dieser deutsche Brei, diese klebrige Soße, die sie mit ihrer Kulturproduktion servierten, und diese Soße schmeckte so schlecht, weil sie zubereitet war aus den Rückständen politischer Krankheiten, aus den überlebten Doktrinen des Jahrhunderts, und angereichert mit den politischen Modebegriffen der jeweiligen Saison.“

 

Die Erinnerung an Jörg Fauser schließt auch den Eklat beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb 1984 in Klagenfurt ein. Marcel Reich-Ranicki schließt ihn von diesem faktisch aus mit der Bemerkung: „Er gehört hier nicht her“.

 

Ob und wie er damals und noch heute zur literarischen Welt gehörte bzw. gehört, will die Sachsenhäuser Kulturinitiative PRO LESEN in ihrer Themenwoche zu klären versuchen.

 

Kaputte Typen und einer von ihnen möchte Schriftsteller werden


Dass Jörg Fauser schnell zu einem Mythos wurde, lag auch an den Umständen seines frühen Todes. Nie wurde richtig geklärt, was in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1987 genau geschah. Fauser wurde als Fußgänger gegen vier Uhr auf der Autobahn Richtung München in Höhe der Anschlussstelle Feldkirchen von einem Lkw erfasst und getötet. Dabei hatte er am Abend noch mitten in München seinen 43. Geburtstag in der Szene- und Schickeria-Bar „Schumann’s“ gefeiert. Irgendwann war er aufgestanden und gegangen, doch das passte ins Bild.

 

Bereits drei Jahre nach seinem Tod erschien eine achtbändige Gesamtausgabe der Erzählungen, Romane, Reiseberichte und Gedichte plus Beiheft, das voluminöse Werk eines manisch und besessen Schreibenden. Fauser hing keinen politischen Utopien an  - möglicherweise trübte der exzessive Drogen– und Alkoholkonsum seinen Blick dafür. Er war sechs Jahre heroinsüchtig und anschließend bis zu seinem Tod Alkoholiker. Der Stoff seines Schreibens bestand dezidiert aus seinem Leben, das lange am Rande verlief, und dadurch verwischten sich programmatisch die Grenzen zwischen literarischem Text, Essay und Reportage. Er war der erste in Deutschland, der konsequent an den „new journalism“ in den USA anknüpfte, er war der Wegbereiter und Avantgardist der literarischen Reportage. Er berichtete nicht distanziert, er bemühte sich nicht um Objektivität und befleißigte sich nie jenes sachlichen, abwägenden Stils. Er ging von seiner Subjektivität aus und hatte einen direkten, scharfen Blick.
 

Der Roman „Rohstoff“ handelt von der extremsten Phase in seinem Leben; die Zeit der Heroinabhängigkeit etwa zwischen 1967 und 1973, und die Romanfigur Harry Gelb, sein Alter Ego, hangelt sich an den einzelnen Stationen entlang, die auch Fauser durchlief. Die Handlung setzt spektakulär im Winter 1967/68 in Istanbul ein, auf dem Dach eines Aussteiger-Hotels. Die meisten haben vor, auf dem Hippie-Pilgerweg nach Indien weiterzuziehen. Harry Gelb indes droht in Istanbul hängenzubleiben und wegzudämmern. Und auch, als er nach Deutschland zurückkehrt, mit chaotischen Aufenthalten im subkulturellen Polit- und Undergroundmilieu im Berlin um 1968/69 und in Frankfurt, bleibt Istanbul ein Fluchtpunkt. Die eigentliche Geschichte des Romans findet jedoch auf einer ganz anderen Ebene statt. Harry Gelb will Schriftsteller und im Laufe des Romans wird er auch zu einem. Alles dreht sich um das Schreiben, und dadurch wird Harry Gelb zu einer Kunstfigur, in die Jörg Fauser alle Obsessionen seines Schrei­bens hineinlegt und Schlüsselmomente kondensiert. Harry Gelb schreibt gerade an einem Roman namens „Stamboul Blues“:

 

„Ich war Anfänger. Alles, was bisher geschrieben worden war, zählte nicht. Das war ja auch der Sinn des Umschwungs, der Revolution, an die ich trotz der Berliner Depressionen nach wie vor glaubte: Wir mussten neue Inhalte suchen und für sie neue Ausdrucksmöglichkeiten. Eine neue Literatur. 1945 wäre es dafür auch Zeit gewesen, aber was hatten wir in Deutschland (West) dafür bekommen? Die Gruppe 47. Mit dem, was diese Leute schrieben, hatte ich herz­lich wenig am Hut. Aber auch die neuen Sachen, die Sarah [seine Freundin] mir ab und zu zeigte, fand ich ziemlich uninteressant. Clevere Studenten. Entweder feinsinnig gedrechselt oder im bombastischen Pathos verfasst, das ich vom SDS kannte. Eine neue Literatur war das nicht. Die fand ich nur bei den Amerikanern. Bei Borroughs zum Beispiel. Als wir ‚Naked Lunch‘ in Istanbul in die Finger bekommen hatten, Ede und ich, hatten wir ihn nicht gemocht. Jetzt las ich etwas genauer, ich las auch mit meinem Straßenenglisch die amerikanische Ausgabe von ‚Soft Machine‘, und ich entdeckte, dass das die Sprache und die Ästhetik einer neuen Literatur sein konnte – und was das Thema der Sucht betraf, ging Burroughs direkt in die Venen. ‚Stamboul Blues‘ musste im Deutschen eine Pionierarbeit darstellen wie ‚Soft Machine‘. Der traditionelle Roman war für das, was ich beschreiben wollte, einfach untauglich. Sucht zerstört Individualität, also über Bord mit individuellen Figuren, und die lineare Story gleich hinterher. Und da wir schon dabei sind: der klassische Satzaufbau, Subjekt, Prädikat, Objekt, damit lässt sich nicht beschreiben, was passiert, wenn das Opiat die grauen Zellen sprengt.“

 

Was der Leser von „Rohstoff“ über das geplante Buch „Stamboul Blues“ erfährt, hat ziemlich viele Ähnlichkeiten mit dem tatsächlichen Romandebüt Jörg Fausers. Es erschien 1972 im kleinen Maro Verlag in Gersthofen und hieß nach einem Stadtteil von Istanbul: „Tophane“.
 

In der Figur Harry Gelb konzentrieren sich alle Projektionen, alle Phantasien Jörg Fausers. Er lässt vieles aus seiner Biografie weg, setzt aber das Schreiben absolut und spitzt alle möglichen erlebten Situationen darauf zu.
„Rohstoff“, der Titel des Romans, ist mehrdeutig: der Rohstoff des Schreibens ist das Leben, das sich während des Schreibens aber in einen literarischen Stoff verwandelt und deshalb zum Kunstwerk wird. Ein „Rohstoff“ ist dabei auch das Opium.

 

Fauser blickte 1984, im Abstand von zehn Jahren, auf seine frühe Beatnik- und US-Avantgarde-Phase in einem ganz anderen Stil zurück: hart, realistisch, mit gekonnten Dialogen. Er hatte sich das seit Mitte der 70er-Jahre angeeignet, um mit der Schriftstellerei endlich Geld zu verdienen. Er hatte begonnen, Drehbücher und Krimis zu verfassen, und es ist faszinierend, wie er mit diesen neu eroberten Mitteln im Roman „Rohstoff“ dann die frühen Cut-up- und Bewusstseinsstromtexte seines Harry Gelb beschreibt: die Avantgarde wird dadurch zum Krimi und zum Reißer, und die Position des exzentrischen Außenseiters, der sich um keine Konventionen schert, wird auf diese Weise geradezu identifikationsstiftend. Der unvergleichlich zupackende, treffsichere Ton wirkt besonders provokativ, wenn es um die herrschende Politiksprache der 68er um ihn herum geht.
 

„Man konnte schon mal spüren, wie sich die Ostermarschierer und die Gewerkschaftsstrategen innerlich juckten, wenn da plötzlich die Namen Baader und Meinhof auftauchten. Mit der RAF konnte man sie kitzeln. Und wenn sie sich beschwerten, dann war man eben das arme besoffene Schwein, einer von den Asozialen, Marx sei’s geklagt, die beim langen Marsch durch die Institutionen am Wegrand zusammensackten und leider zurückgelassen werden mussten. Mich streiften allerdings immer besonders bohrende Blicke. Ob Verleger oder Redakteure, ob Bonzen oder Mitläufer, es war alles die gleiche Gesellschaft, die funktionierende Kulturklasse.“

 

Es gibt einige eindringliche und sehr typische Szenen aus dem „Schmalen Handtuch“, einer kleinen Trinkerkneipe in Frankfurt-Bornheim, in der Harry Gelb eine neue Heimat findet und seine Häutung zum professionellen Schriftsteller vorbereitet. Am Schluss des Romans hat er seine erste öffentliche Lesung, in reichlich provinziellem Ambiente in Montabaur, und damit ist der Weg frei und „Rohstoff“ endet.

 

 

Lieferbare Romane und Erzählungen von Jörg Fauser

Romane
Der Schneemann
Rohstoff
Schlangenmaul
Die Tournee (Fragment)

 

Erzählungen
Alles muss anders werden
Mann und Maus
Alles wird gut

 

Gedichte
Ich habe die großen Städte gesehen

 

Kolumnen
Caliban Berlin

 

Biografie
Marlon Brando

 

Zur Zeit vergriffen
Ich habe eine Mordswut (Briefe an die Eltern)